Frank-Arne Knoth

DER EPHESISCHE SCHLUSS-STEIN


Fünfzehn Stunden, dachte er und rieb sich verzweifelt die Schläfen. Nur noch fünfzehn Stunden und ich habe nichts in den Händen, um das Unglück aufzuhalten.

Wütend stieß er seine festen Wanderschuhe in den lockeren Boden und betrachtete den feinen Staub, in dem sich das gleißende Licht der Morgensonne brach. Er liebte diesen frühen Moment, wenn die ersten Strahlen der hinter den Bergen von Şirince aufgehende Sonne die fernen Stadtmauern auf dem Bülbüldağı berührten und nach und nach erst den Berg, dann den antiken Hafen und schließlich die unter ihm liegenden Ruinen von Ephesos in ihr goldenes Licht tauchten. Er liebte die Stille, die ihn hier umgab, bevor die täglichen Touristenschwärme nach Ephesos kamen und die antike Stadt wie eine Heuschreckenplage heimsuchten. Aber der heutige Morgen ließ ihm keine Ruhe, all das zu genießen. Wieder starrte er auf die marmornen Ränge des unter ihm liegenden Theaters und dachte mit einem Schaudern an die Konsequenzen, sollte er mit seiner Vermutung Recht haben.

Der schrille Ton aus Hassans Trillerpfeife ließ ihn hochschrecken. Er erhob sich von seinem Stein und winkte dem alten Wächter zu. Hassan Çavuş, wie ihn alle nannten, weil er einst beim türkischen Militär als Feldwebel gedient hatte, kannte ihn seit seiner ersten Kampagne in Ephesos und schätzte seine ruhige Art. Es dauerte eine Weile, bis der alte Mann den obersten Rang des Theaters erreicht hatte und keuchend die Hangbefestigungen heraufgeklettert war.
»Markusbey«, begrüßte er ihn noch immer außer Atem.
»Guten Morgen, Hassan Çavuş.«
»Na, Junge?« sagte der Alte und holte ein zerknittertes Päckchen Maltepe-Zigaretten aus seiner Hemdtasche. »Was macht dir solche Sorgen, dass du aussiehst wie die Mutter des Imam?«
Markus nahm die ihm angebotene Zigarette mit einer höflichen Verbeugung und ließ sich Feuer geben.
»Das Theater, Hassan. Aber ich brauche mehr Beweise.«
»Beweise wofür?«
»Dass es ein römisches Theater ist.«

Hassan Çavuş lachte. »Was kümmert es dich, ob das Theater römisch ist oder nicht?«
Markus grunzte. »Weißt du, was hier heute abend stattfindet?«
»Aber natürlich. Jeder in Selçuk weiß davon. Selbst aus Izmir kommen die Leute und geben für diesen Krach zum Teil sehr viel Geld aus. Aber was kümmert es dich, ob sie in einem römischen Theater sitzen? Ich meine, wir haben hier griechische Bauten, römische und byzantinische. Lass die Scorpions in der Johannesbasilika von Selçuk spielen. Glaubst du wirklich, das alte Klostergemäuer würde dem Dröhnen des Havy Metal mehr Stand halten als unser Theater?«
»Darum geht es nicht«, wandte der junge Architekt kopfschüttelnd ein. »Es ist die Bauweise, die das ganze gefährlich macht.

Jedes Buch über Ephesos und jeder Reiseführer wird dir sagen, dies sei ein griechisches Theater, das in den Hang hineingebaut sei. Wenn dem so wäre, müssten die Steinstufen auf einer Mörtelbettung liegen, die ihrerseits auf dem blanken Fels des Berges sitzt. Aber ich fürchte, dass diese Annahme falsch ist. Ich glaube viel mehr, dass es sich um ein römisches Theater handelt, dessen Ränge auf gigantischen Kellergewölben ruhen. Gebe es Gott, dass ich mich irre. Aber ich möchte eben sicher sein können.«
Hassan Çavuş betrachtete ihn mit einem nachdenklichen Blick. »Du glaubst ernsthaft, dass die Gewölbe einstürzen könnten?«
»Aber ja«, rief Markus erregt. »Diese Gewölbe, wenn sie denn überhaupt existieren, müssten unermesslich groß sein und halten sich vermutlich nur durch ihr Eigengewicht.«
Er nahm ein Stöckchen und ritzte die Gewölbekonstruktion in den staubigen Boden.

»Schau her. Die römischen Gewölbe haben keine flache Decke, sondern einen Bogen, der aus Steinen gemauert ist und sich nur so lange hält, wie der oberste Schlussstein im Verband hängt. Kommt jetzt ein Erdbeben oder irgendeine andere Erderschütterung, wobei die Bässe eines Havy Metal-Konzerts da keine Ausnahme bilden, so rüttelt sich dieser Schlussstein langsam nach unten. Fällt er aber heraus, dann fallen alle anderen Steine auch.«
Hassan Çavuş pfiff durch die Zähne. »Ein Kaskadeneffekt!«
»Bist du mal auf einer solchen Aufführung gewesen?«
»Ja, letztes Jahr, als Namık Şimşek hier gesungen hat. Ein großartiger Sänger.«
»Und wieviel Leute sind da gekommen?«
»Woher soll ich das wissen?«, entbrüstete sich der Alte.
»Aber es waren viele. Vielleicht zehn- oder fünfzehntausend.«

»Gehen wir mal von zwölftausend Zuschauern aus. Dann sitzen viertausend dort unten im untersten Rang und die restlichen achttausend im mittleren und oberen Rang. Wenn das passiert, Hassan Çavuş, wovor ich mich fürchte, fallen diese achttausend Menschen dreißig bis sechzig Meter in die Tiefe, begraben von tausenden tonnenschweren Blöcken. Kannst du dir vorstellen, was das bedeutet?«
»Şeytan!«, murmelte Hassan Çavuş und spie auf den Boden.
»Ganz recht«, nickte Markus. »Der Teufel hätte seine wahre Freude. Und er ist der einzige, der weiß, ob ich mit meiner Vermutung überhaupt recht habe.«

»Aber das ist doch ganz einfach. Ihr bohrt ein Loch durch die Ränge und wisst Bescheid.«
»Tja, Hassan, wenn das mal so einfach wäre. Ich habe neulich mit meinem Chef darüber gesprochen. Aber der hält mich für verrückt und war nicht bereit, Arbeitskräfte und Materialkosten zu verschwenden, nur um sich davon zu überzeugen, dass ich Unrecht habe.«
»Dann gehst du eben zur Antikenbehörde in Selçuk.«
»Das kann ich nicht machen, Hassan. Mein Chef würde mich fristlos feuern und er hätte Recht. Davon abgesehen glaube ich nicht, dass die Antikenbehörde in Selçuk irgendein Interesse daran hat, dieser Frage nachzugehen.«
Hassan Çavuş sah ihn verständnislos an. »Warum sollte sie sich für deine Theorie nicht interessieren?«
»Ganz einfach. Weil sie im gleichen Gebäude sitzt wie das Amt für Kultur- und Touristmus. Und die Jungs verdienen an diesem Spektakel nicht schlecht.«
»Aber wenn deine Befürchtung wahr wird, werden sie gar nichts mehr verdienen.«

Markus lächelte ironisch. »Selbst wenn ich mit meiner Befürchtung Recht hätte, Hassan. Was sollen sie denn machen? Hast du eine Vorstellung davon, was es kostet, die bestellten Scorpions abzusagen? Und was ist mit den verkauften Karten? Was ist mit dem Imageverlust, der der Stadt in den nächsten Jahre entsteht, von den Absagen kommender Konzerte ganz zu schweigen? Nein, Väterchen, die Antikenbehörde ist dafür der denkbar schlechteste Ansprechpartner.«
»Also, was willst du jetzt tun?«
»Ich werde heute noch einmal mit meinem Chef sprechen. Vielleicht male ich ja auch nur den Teufel an die Wand und es besteht überhaupt keine Gefahr.«

»Aber was, wenn nicht?«
»Eben. Und deshalb würde ich dich bitten, darüber vorerst kein Wort zu verlieren. Vor niemandem, hörst du? Ich möchte nicht, dass sich irgendjemand Sorgen macht, bevor es einen Grund dazu gibt. Außerdem habe ich keine Lust, als Trottel dazustehen, sollte ich mich irren.«
»Ja, Markusbey, das kann ich verstehen.«
Die Sonne stand mittlerweile über dem Panayırdaĝı und auf dem fernen Parkplatz trafen schon die ersten Touristenbusse ein. Sie verabschiedeten sich per Handschlag und wünschten sich einen erfolgreichen Tag. Markus vergrub die Hände in den Hosentaschen und betrachtete konzentriert die obersten Ränge des Theaters. Hassan Çavuş hatte vollkommen Recht. Im Grunde genommen war es so einfach. Denn man musste wirklich nur ein Loch in die Stufen bohren. Stieß der Bohrer nach einem Meter auf den Felsen, hatte sich die Sache erledigt. Landete er dagegen in einem Hohlraum, mussten sie das Theater sofort sperren lassen.

Markus arbeitete nun seit sechs Jahren für die österreichischen Archäologen und kannte das Theater von Ephesos in- und auswendig. Schon zu Beginn seiner Tätigkeit hatte er sich gewundert, als man ihm erzählte, es handele sich ursprünglich um einen griechischen Bau, der erst in römischer Zeit verändert worden sei. Denn vieles, was man als originale Bausubstanz werten konnte, sprach eigentlich dagegen. Aber er hatte es dabei bewenden lassen und die Einschätzung seiner Kollegen akzeptiert. Vor ein paar Wochen jedoch waren seine Zweifel wieder zurückgekehrt.

Es war an einem Nachmittag, als er für das bevorstehende Scorpions-Konzert die Statik der oberen Ränge überprüfen sollte und dabei beobachtete, wie die Erde zwischen zwei Stufen in ein Loch rieselte. Kleine Hohlräume innerhalb der Ruinen waren zwar nichts ungewöhnliches. Doch als er sich die schmale Spalte genauer ansah, blickte er in ein tiefes schwarzes Loch, aus dem zu seiner größten Beunruhigung ein heftiger Luftzug wehte. An seinem nächsten Arbeitstag nahm er sich eine Taschenlampe mit und leuchtete in das Loch hinein, doch der Lichtkegel traf keinen Boden, sondern verlor sich in einem scheinbar riesigen Raum. Der zehn Meter lange Faden, den er vorsichtshalber mitgenommen und mit dem Gewicht seines Bleistifts beschwert in das Loch hinabgelassen hatte, reichte nicht aus, um den Grund der Spalte zu erreichen. Er meldete seine Beobachtung, woraufhin der betreffende Bereich abgesperrt wurde. Die Möglichkeit jedoch, dass es sich bei dem Loch vielleicht um ein größeres Substruktionsgewölbe handeln könnte, das sich nicht nur unter der untersuchten Stelle befand, sondern das gesamte Theater umlief, kam ihm erst vorgestern in den Sinn.

Die Konsequenz wäre aberwitzig, denn diese Bauweise war ebenso aufwendig wie kostspielig: Man hätte den Felsen auf der gesamten Breite des Theaters Stück für Stück abtragen müssen, nur um ihn dann anschließend durch riesige Gewölbe wieder zu ersetzen. Wer so einen Aufwand betreibt, wird seine Gründe haben; vielleicht war der Felsuntergrund nicht flächendeckend stabil genug, um dem Druck des Baugewichts Stand halten zu können. Aber das alles galt es ja erst noch zu beweisen.

Die zunehmende Hitze machte ihm zu schaffen. Markus löste das Tuch von seiner Taille und band es sich um den Kopf. Er kletterte über die Hangbefestigung in die obersten Stufen des Theaters und suchte nach irgendwelchen Anzeichen, dass er sich irrte. Doch er fand keine. Die Zeit verrann und Markus setzte sich niedergeschlagen in den obersten Rang. Hatte es einen solchen Unfall jemals gegeben? Bislang war er der einzige, der diese Möglichkeit überhaupt in Betracht zog. Er wog die Wahrscheinlichkeiten eines Irrtums gegen die Risiken einer richtigen Einschätzung ab und kam zu dem Schluss, dass es das Risiko nicht wert sei. Die Kulturbehörde von Selçuk nutzte das antike Theater von Ephesos schon seit Jahren für moderne Aufführungen, und die einmalige Atmosphäre hatte den hohen Preis, den man für die Eintrittskarten zahlte, immer gerechtfertigt.

Aber die Scorpions, bei allen Göttern, … warum nicht gleich eine Techno Party? Welche Erschütterungen die Bässe solcher Konzerte auslösen konnten, musste jedem klar sein, der schon einmal auf einem Rockkonzert direkt neben den Lautsprechern gestanden hatte. Selbst, wenn er Recht hatte und alle Gewölbe noch intakt waren, wäre ein solches Konzert für die Statik zu riskant, um ihm vorbehaltlos zuzustimmen. Sein Chef hatte die Theorie der römischen Substruktionsbauweise strikt abgelehnt, aber schließlich hatte Markus auch nicht vehement genug auf seiner Meinung bestanden. Ihm war klar, dass er seinen Ruf aufs Spiel setzte, wenn er das Thema noch einmal anschnitt und mit aller gebotenen Schärfe darauf bestand, die Bohrungen durchzuführen. Aber er konnte und wollte nicht mit der Schuld leben, die ihm zeitlebens anhaften würde, sollte er mit seiner Vermutung Recht haben und das von ihm prophezeite Unglück auch nur einen Menschen in den Tod reißen. Entschlossen stand er auf und stapfte die Treppenstufen des Theaters zum Ausgang hinab. Dieser Tag würde sein Leben verändern, so oder so. Sollte er sich irren, konnte er seine Sachen packen und bräuchte sich
um einen Posten wie diesen nie wieder zu bewerben. Hatte er dagegen Recht, war er von einem Tag auf den anderen berühmt.

Markus schob sich durch die Touristenströme an der Arkadiane und schlenderte am Theatergymnasion vorbei zum Eingang. Im Vorbeigehen grüßte er Sayit und seinen Sohn, die am Toilettenhäuschen ihren Dienst verrichteten und lachte über den Geschäftssinn dieses Mannes. Die meisten Touristen, die sich hier erleichterten, hielten ihn für einen armen Mann, dem man ein kräftiges Trinkgeld geben musste. Wüssten sie, dass er einer der reichsten Plantagenbesitzer von Selçuk war, der das Toilettenhäuschen von Ephesos nur deshalb gepachtet hatte, weil es eine der einträglichsten Einnahmequellen darstellte, würden die Trinkgelder wohl wesentlich kleiner ausfallen. Aber sie wussten es nicht und Sayit seinerseits wusste, dass sie es nicht wussten. Dieser Halunke!

Markus setzte sich in seinen Grabungsjeep, der vor dem Eingang im Schatten einer Platane parkte und hupte eine kleine Gruppe italienischer Touristen beiseite, die sich lauthals über irgendetwas beschwerten. Auf dem Weg nach Selçuk überlegte er sich seine Strategie. Das Problem seines Anliegens lag gar nicht so sehr in dem zu erwartenden Arbeitsaufwand. Notfalls war er sogar bereit, die Leute, die ihm beim Bohren helfen mussten, aus eigener Tasche zu bezahlen. Viel schwieriger war die Beschaffung des Bohrgeräts. Denn sie mussten nicht nur Kies und Erde durchbrechen, sondern auch Zement und Marmor. Und dann war da noch die Zerstörung der originalen Bausubstanz, der kein Archäologe zustimmen würde, wenn es nicht unbedingt notwendig war. Aber es war notwendig, und Markus war fest entschlossen, diese Notwendigkeit um jeden Preis zu verteidigen.

Am Grabungshaus angelangt, traf er seinen Chef in einer Besprechung mit dem österreichischen Kulturattachè aus Ankara. Solch hoher Besuch war nicht selten, aber diese Besprechungen pflegten sich für gewöhnlich in die Länge zu ziehen und so lange wollte Markus nicht warten. Schließlich bräuchten sie allein für die Bohrungen mindestens einen Tag und das Bohrgerät musste vermutlich erst noch besorgt werden. Er räusperte sich umständlich, bis die beiden Herren auf ihn aufmerksam wurden.
»Ich bitte meine Störung zu entschuldigen«, hob er an.
»Aber was gibt es denn, Herr Reichinger? Sie sehen doch, dass der Herr Kulturattachè Salzberg und ich beschäftigt sind.«
»Ich muss Sie in einer Sache sprechen, die, wie ich fürchte, keinerlei Aufschub duldet.«
Der Grabungsleiter wirkte gestresst, machte aber auch keinerlei Anstalten, Markus ein Gespräch unter vier Augen anzubieten, was ihm nur Recht war, denn der Kulturattachè konnte ruhig mithören, was er zu sagen hatte.

»Es geht noch einmal um das Theater und die heutige Aufführung. Ich hege die große Befürchtung, dass sich die unter dem Südrang festgestellten Hohlräume bis nach Norden fortsetzen könnten, vielleicht sogar unter dem gesamten Theater.«
»Aber mein lieber Kollege Reichinger«, spottete der Grabungsleiter.
»Das haben wir doch schon alles ausdiskutiert. Die betroffenen Ränge sind abgesperrt worden und mehr gibt es dazu doch wohl nicht zu sagen, oder?«
»Ich fürchte doch«, widersprach ihm Markus und bemerkte mit wachsender Unruhe den blitzenden Zorn in den Augen seines Chefs.
»Es ist durchaus möglich, dass ich mich irre. Sollte dies der Fall sein, bin ich bereit, meinen Posten abzugeben und die Heimreise anzutreten. Sollte ich mit meiner Befürchtung aber richtig liegen, steuern wir einer Katastrophe entgegen, die uns alle den Kopf kosten kann.«

»Worum geht es hier eigentlich?«, mischte sich der Kulturattachè etwas ungehalten ein.
»Ach, das lohnt keiner Erläuterung.«
»Na, das sehe ich aber anders«, erwiderte Salzberg. »Ihr junger Architekt wäre wohl kaum bereit, seinen Posten abzutreten, wenn die Sache tatsächlich so nichtig wäre, wie Sie sie darstellen.«
Der Grabungsleiter schüttelte ungehalten den Kopf, was Markus dazu animierte, das Problem zu erläutern.
»Selbst dann«, schloss er seinen Bericht, »wenn die Gewölbe nur zehn bis fünfzehn Meter tief wären wie an der von mir untersuchten Stelle, würde ein Einsturz reichen, um vielen Menschen den sicheren Tod zu bringen.«
»Ja, um Gottes Willen«, rief der Kulturattachè, »dann bohren Sie! Was stehen Sie hier noch herum?«

»Dazu bräuchte ich das entsprechende Gerät und Leute, die mir dabei helfen. Aber vielleicht könnten wir ja auch, um die antike Bausubstanz nicht zerstören zu müssen, den einen oder anderen Sitzstein aushebeln und einen Sondierungsschnitt anlegen.«
Der Grabungsleiter schnaubte verächtlich. »Warum tragen Sie nicht gleich das ganze Theater ab?«
Der Kulturattachè bedachte den Grabungsleiter mit abschätzenden Blicken. »Ich glaube kaum, dass Ihr Zynismus hier angemessen ist. Wenn es auch nur den Ansatz einer Gefahr gibt, werden Sie gefälligst das Nötige veranlassen, um diese abzuwenden. Wird Herr Reichinger nicht fündig, hat er selbst ein Problem. Sollte er aber Recht haben, das garantiere ich Ihnen, dann haben Sie eines.«

Markus merkte, wie ihm der Angstschweiß über den Rücken lief. Vielleicht war dies das Ende seiner bisherigen Karriere. Doch für derlei Überlegungen war es jetzt zu spät. Der Grabungsleiter entschied sich für das Aushebeln, da es schneller ging und weniger Bausubstanz angriff. Da der Kulturattachè gerne dabei sein wollte, fuhr er mit ihm nach Ephesos, während ihnen Markus mit seinem Grabungsjeep folgte. Sie hielten kurz an der Stadiongrabung, um sich von den dortigen Kollegen eine Gruppe von 12 Arbeitern auszuleihen, die Markus bei den Sondierungsschnitten im Theater helfen sollten. Letztlich kamen auch noch einige Archäologen und Architekten mit, die sich über die aufwendige Aktion lustig machten und Markus hinter dem Rücken des Kulturattachès kopfschüttelnd ihre Ablehnung zeigten. Die Helfer und das Arbeitsgerät waren schnell besorgt und so folgte ihnen der schwere Grabungslastwagen vom Stadion bis zum Eingang nach Ephesos, den sie seitlich umfuhren
und über einen schmalen Weg hinter dem Theatergymnasion bis zum Theater gelangten.

Markus hatte sich eine Stelle auf der gegenüberliegenden Nordseite ausgesucht, die auf der gleichen Höhe wie der abgesperrte Bezirk des obersten Theaterranges lag, aber durchaus noch zugänglich war. Der Grabungsleiter hatte die Sache vollends in die Hand genommen und befehligte routiniert den Sondierungsschnitt, nicht ohne immer wieder zu beteuern, wie unnütz die ganze Aktion war. Es dauerte nicht lange, bis sie den Mörtel aus den Fugen zwischen den Sitzsteinen geschlagen hatten und den schweren Marmorblock mit ihren Hebeln bewegen konnten. Mit vereinten Kräften hebelten zehn Arbeiter den Stein aus dem Verband und wollten ihn gerade auf das darunter liegende Holzgerüst wuchten, … als sich der Stein von allein bewegte.

Alles in allem ging es sehr schnell, doch es sollte Markus noch Jahre später so vorkommen, als sei das alles in Zeitlupe passiert. Sein erster Eindruck war die gespenstische Blässe seines Grabungsleiters, von der er im ersten Moment nicht genau sagen konnte, ob es noch immer die Wut auf seinen jungen Architekten oder der Schrecken über etwas anderes war. Dann fiel sein Blick auf den Stein, der sich erst langsam, dann immer schneller nach unten bewegte und schließlich ein klaffendes Loch hinterließ, bevor er Sekunden später mit einem krachenden Poltern auf den fernen Boden eines Gewölbes knallte. Die Arbeiter stoben in Panik auseinander, während der Luftzug den Staub aus dem tiefen Loch aufwirbelte. Der Grabungsleiter und der Kulturattachè dagegen blieben wie angewurzelt auf ihren Plätzen.

»Woher wussten Sie das?« stammelte der Grabungsleiter und heftete seinen erschrockenen Blick an Markus.
»Ich wusste es nicht«, sagte Markus mit einer schockartigen Erleichterung. »Ich habe es nur geahnt.«
Er ging vorsichtig auf die gegenüberliegende Seite des Loches und prüfte, ob die Schlusssteine des Gewölbes noch an den für sie vorgesehenen Orten saßen. Nachdem dies auf der einen Seite der Fall zu sein schien, bewegte er sich auf die andere Seite und sah, dass der Schlussstein in der gegenüberliegenden Partie nur noch zu etwa einem Zehntel im Verband hing.
»Sie sollten sich lieber einen anderen Platz aussuchen, Herr Salzberg. Wie es scheint, kommt der Sitzstein unter ihren Füßen
als nächster herunter.«
»Gütiger Himmel!« entfuhr es dem Kulturattachè, der entsetzt auf die nächst tiefer liegende Stufe trippelte.

»Und was machen wir jetzt?«
»Als erstes«, schlug Markus vor, »sollten wir jemanden von der Kulturbehörde in Selçuk alarmieren. Das Konzert für heute abend muss auf jeden Fall abgesagt oder zumindest an einen anderen Ort verlegt werden.«
»Gute Idee, aber es ist Samstag. Da ist niemand erreichbar.«
»Dann rufen Sie die Polizei an oder den Bürgermeister. Irgendjemand wird ja wohl Bescheid wissen.«
»Aber vielleicht sind ja nur die obersten Ränge davon betroffen. Vielleicht müssen wir gar nicht das gesamte Theater absperren.«
Markus hatte allmählich die Nase voll. Er winkte seinen Chef auf die obere Stufe und zeigte ihm die tief unter ihnen liegenden Quergänge, die darauf hindeuteten, dass das gesamte Theater unterkellert war.
»Vielleicht ist der Rest ja noch intakt. Aber die Bässe der Scorpions könnten das ganz schnell ändern, meinen Sie nicht?«
»Natürlich, natürlich. Entschuldigen Sie meine abweisende Art von vorhin. Ich hätte das nie für möglich gehalten.«
»Schon gut«, lächelte Markus, der seinen Triumph nicht überstrapazieren wollte und heilfroh war, sich letztlich doch noch durchgesetzt zu haben.

* * * * * * *

Der Herbst war kalt und regnerisch und die Bäume in Graz hatten ihr Laub längst verloren. Seine Sekretärin hatte sich schon vor einer Stunde verabschiedet, um noch vor Einbruch der Dunkelheit zuhause zu sein. Markus saß an seinem Architektentisch und beugte sich über die alten Pläne, die er während seiner Kampagnen in Ephesos gezeichnet hatte. Wie gebannt starrte er auf die Querschnitte der hohen Theatergewölbe und versuchte sich an jenen Tag zu erinnern, an dem er mit seinem damaligen Grabungsleiter und dem mittlerweile pensionierten Kulturattachè Salzberg die Gewölbe entdeckt hatte. Das Theater war römischen Ursprungs und nicht, wie man jahrhundertelang geglaubt hatte, griechisch. Aber es war auch nicht gänzlich untertunnelt, sondern nur in seinem obersten Rang. Das Konzert der Scorpions wurde ebenso abgesagt wie alle anderen Rock- und Havy Metal-Konzerte, die damals und zukünftig in dem antiken Rund des ephesischen Theaters aufgeführt werden sollten, und das Theater war nur noch bis zum mittleren Rang begehbar. Den Touristen war das egal und dem Rest der Welt auch.

Nur einem war es nicht egal, nämlich ihm selbst. Die Leichtigkeit, mit der sie den Sitzblock aus dem Verband lösen und letztlich zum Einsturz bringen konnten, hatte sich tief in seine Erinnerung gebrannt. Das Inferno, das er sich damals vorgestellt hatte, war ausgeblieben, denn nach dem Schlussstein waren keine weiteren Steine in die Tiefe gesaust. Aber den einen oder anderen hätte es getroffen, denn die Stelle war damals nicht abgesperrt. Was für ein komisches Gefühl, dachte sich Markus, ein Menschenleben gerettet zu haben, das man nie zu Gesicht bekommen wird. Verträumt schaute er in den Regen hinaus, der an seine Scheibe trommelte und ihn an seine hochschwangere Frau erinnerte, die zuhause auf ihn wartete. Er rollte den Plan zusammen und knipste das Licht aus. Morgen ist unser Stichtag, dachte er vergnügt, während er sich seinen Mantel anzog.

Nur noch fünfzehn Stunden, und ich habe nichts in den Händen, um mein Glück aufzuhalten.