▶ (Hörbuch) Es war noch früh, als der gut gekleidete Junge über den Marktplatz schlenderte und sich am Ende der heiligen Halle unter einem alten Olivenbaum niederließ. Die Strahlen der über dem Meer aufgehenden Sonne tauchten die Dächer von Mallos in ein gleißendes Licht und warfen lange Schatten durch die Gassen. Er liebte diese frühen Stunden, wenn die Straßen und Plätze seiner Vaterstadt noch so ruhig waren, dass man die Vögel zwitschern hören konnte. Er liebte die Atmosphäre, wenn die Häuser langsam zum Leben erwachten und die Bauern auf dem Markt ihre Stände aufbauten, um wie jeden Tag in Mallos die Früchte ihrer Landarbeit zu verkaufen.
In diesen Stunden schien sich das große Rad der Zeit so viel langsamer zu drehen als über den Rest des Tages, wenn die Straßen mit Fuhrwerken verstopft waren und sich auf dem Marktplatz laut feilschende Händler und diskutierende Männer drängten. Gedankenverloren saß er unter dem Baum, betrachtete die Scherben eines zerbrochenen Weinkrugs und ritzte mit einem Stöckchen geometrische Figuren in den Staub.
»He, Krates. Kann man dir irgendwie helfen?«
Er blickte auf und erkannte seinen Freund Hippias, der verschmitzt lächelnd am Baum lehnte und auf einem Stöckchen kauend die Staubzeichnungen musterte.
»Ich weiß nicht recht«, erwiderte Krates schulterzuckend. »Ich versuche hier verzweifelt den Inhalt einer Vase zu berechnen. Aber ich komme nicht auf die Formel.«
»Meine Güte!« lachte Hippias. »Wozu denn?«
»Kennst du den alten Hyperides?«
»Den Vasenmaler?«
»Genau. Der soll ein paar Mischkrüge herstellen, von denen die einen genau die doppelte Menge aufnehmen sollen wie die anderen. Ich war neulich zufällig dabei, als er sich maßlos darüber aufregte, weil das seiner Meinung nach unmöglich sei. Ich denke aber, dass man das berechnen können müsste. Irgendwie muss es gehen.«
Hippias nickte und setzte sich zu ihm unter den Baum. Gemeinsam fügten sie die Scherben so gut es ging wieder zusammen und brüteten über der komplizierten Volumenberechnung. Sie hatten sich darauf geeinigt, die Theorien des Eukleides mit denen des Eudoxos von Knidos zu vereinen und sich dem Oval des Vaseninneren über eine Halbkugel anzunähern, auf der ein halbes Ellipsoid aufsitzt.
Nach wenigen Stunden war die Fläche unter dem Baum von Bodenzeichnungen übersät und die Lösung auf einer der Scherben eingeritzt. Sie hatten es geschafft, den Inhalt des Mischkruges zu berechnen und eine Formel aufzustellen, nach der die Maße für zwei weitere Mischkrüge feststanden, die den halben, bzw. doppelten Inhalt des ersten Kruges aufnehmen konnten.
Stolz gingen sie zur Werkstatt des Hyperides und präsentierten dem erstaunten Meister ihre Lösung. Hyperides hörte den Jungen aufmerksam zu und schüttelte belustigt den Kopf.
»Nun«, sagte er schließlich, »ich werde eure Zauberformel ausprobieren. Und wenn es mir gelingt, sie sinnvoll umzusetzen, dürft ihr euch sogar einen meiner Weinkrüge aussuchen. Doch jetzt muss ich wieder an meine Arbeit.«
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Die Straße war wie leer gefegt. Ab und an wirbelten kleine Staubwölkchen über das Pflaster und nahmen den Jungen die Sicht auf das Meer. Draußen, vor dem Kap von Magarsa schien der Wind wesentlich kräftiger zu wehen, denn das Sonnenlicht brach sich in den Wellen und verursachte auf der unter ihnen liegenden Bucht ein endloses Glitzern. Ohne ein konkretes Ziel vor Augen schlenderten sie zum Hafen und blickten dabei auf die kilikische Küste, die am westlichen Horizont im Dunst verschwand.
»Soloi da drüben ist kaum noch zu erkennen bei dem Dunst heute«, bemerkte Hippias und trat geistesabwesend einen Stein aus dem Straßenpflaster. »Du bist doch mal da gewesen, oder?«
»Ja, sogar mehrfach. Mein Vater hat mich manchmal mitgenommen, wenn er geschäftlich dort zu tun hatte. Und die Stadt ist schön. Außerdem hat sie ein paar wirklich gute Leute hervorgebracht.«
»Was meinst du denn mit guten Leuten?«
»Na ja, Philosophen, Mathematiker, alle möglichen Wissenschaftler von Rang und Namen. Mein Lehrer Myron hat mir viel davon berichtet. Die meisten Gelehrten aus Soloi waren an der Akademie von Tarsos. Und wer in Tarsos studiert hat, hat bekanntlich die besten Aussichten auf eine glanzvolle Karriere. Chrysippos ist das beste Beispiel.«
»Wer bitte?«
»Chrysippos. Er war einer der bekanntesten Philosophen der letzten Jahrzehnte und er wurde in Soloi geboren. Später studierte und lehrte er an der Akademie von Tarsos und wurde schließlich nach Athen gerufen, um dort die Leitung der stoischen Schule zu übernehmen. Eine größere Ehre kann man wohl kaum erfahren.«
»Philosophen …«, sagte Hippias verächtlich, doch Krates ließ sich nicht beirren.
»Oder nimm Aratos«, fuhr er fort,
»den großen Mathematiker und Astronomen, ohne dessen Vorarbeit du auf deinen Lösungsansatz von vorhin gar nicht erst gekommen wärest.«
»Ja, Aratos sagt mir was. Und was soll mit dem sein?«
»Auch Aratos kam aus Soloi. Auch er studierte an der Akademie von Tarsos, bevor er nach Makedonien aufbrach, um seine Arbeiten im Museion des Königs Antigonos fortzuführen.«
»Na gut«, brummte Hippias, der sich schwer damit tat, sich von seinem jüngeren Freund belehren zu lassen, »das habe ich nicht gewusst. Aber wer stellt sich schon freiwillig in den Dienst eines Königs? Ich jedenfalls würde keinen Palast der Welt gegen meine Vaterstadt eintauschen wollen.«
»Dann hast du deine Entscheidung offensichtlich schon getroffen. Ich weiß nicht, wie ich mich entscheiden würde, wenn man mir die Wahl ließe.«
»Na ja …« Hippias klopfte seinem jungen Freund kameradschaftlich auf die Schulter. »Dazu bleibt dir ja auch noch genügend Zeit.«
Vom Meer wehte eine angenehm kühle Brise herauf. Vor ihnen lagen bereits die ersten Häuser von Magarsa und an den dahinter liegenden Kais sahen sie die Fischerboote, die im Hafenbecken vor sich hindümpelten. Sie setzten sich auf die alte Mole und warfen Steine ins Wasser. Schweigend genossen sie die kühle Meeresluft, während sie den Fischern beim Flicken ihrer Netze zuschauten.
»Weißt du etwas Neues über den Magarsa-Beschluss?« fragte Hippias.
»Mein Vater erzählte mir, dass sich die Diskussion ziemlich festgefahren habe. Er ist ja der strikten Überzeugung, dass wir den Hafen schützen müssten. Doch einige Ratsherren sind immer noch der Meinung, man solle die Stadtkasse nicht wegen ein paar Piraten plündern.« Krates seufzte. »Ich habe leider keine Ahnung, wie groß die Gefahr wirklich ist. Wie denkst du denn darüber?«
»Nun, ich denke schon, dass ein Schutz für Magarsa nicht verkehrt wäre. Bisher ist immer alles gut gegangen. Aber ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass das noch lange so bleibt. Schau«, sagte Hippias und machte dabei eine ausladende Bewegung, die den gesamten Horizont umfasste, »drüben in Pamphylien haben sie ihre Ordnung und auch in Syrien herrschen klare Verhältnisse. Doch wir sind frei und relativ wohlhabend zugleich. Während der Königsherrschaft war dieser Teil des Meeres durch die seleukidische Flotte geschützt. Doch seit dem Frieden von Apamea ist es damit vorbei.«
»Stimmt«, schnaubte Krates. »Ganze zehn Schiffe haben sie ihnen gelassen. Keine sonderlich überzeugende Streitmacht.«
»Na ja, die Römer werden ihre Gründe gehabt haben. Aber was hilft uns das, wenn sie nicht da sind? Zumal doch dieser Zustand des Machtvakuums auf jeden Despoten wie ein Magnet wirkt.«
»Glaubst du wirklich, dass wir Ärger bekommen?«
»Ich weiß es nicht und ich will auch keine unnötigen Ängste verbreiten. Aber ich frage mich, warum uns die Piraten verschonen sollten. Mein Onkel erzählte mir von verschiedenen Fischerdörfern im Rauen Kilikien, die von den Seeräubern überfallen worden sind. Sie haben sich einfach genommen, was sie haben wollten, und sind wieder abgezogen. Die meisten Dorfbewohner haben sie verschleppt und in Side als Sklaven verkauft. Das heißt zwar noch lange nicht, dass auch uns etwas Ähnliches bevorsteht. Aber es besteht doch immerhin die Gefahr.«
»Side …«, sagte Krates nur und spuckte verächtlich ins Wasser. Die ferne Hafenstadt war berüchtigt für ihren Sklavenhandel und jeder ehrliche Seefahrer umfuhr es gewöhnlich mit einem Riesenbogen.
»Doch soweit muss es ja gar nicht kommen«, nahm Hippias seine Überlegung wieder auf. »Schon Magarsa bietet alle Möglichkeiten, nach denen ich mir als Seeräuber alle Finger lecken würde: Es hat einen geschützten Hafen und eine weite Sicht auf das Meer und den Golf von Issos. Wer immer sich in die Nähe der Küste wagt, ist von hier aus zu sehen. Man braucht sich nur auf die Lauer zu legen und die Beute einzusammeln.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ach Krates«, lachte Hippias, »denk doch mal nach! Im Rathaus palavern sie immer nur über die Gefahr eines Überfalls mit Raub und Versklavung. Aber an die Möglichkeit, dass sich die Piraten vielleicht einfach nur hier einnisten wollen, denkt niemand. Dabei wären die Folgen langfristig genauso fatal. Wir hätten den Hafen verloren und den Feind vor den Toren. Mit einer anständigen Befestigung könnte man wenigstens versuchen, die Piraten vom Hafen fernzuhalten.«
Einer der Fischer, der in der Nähe seine Netze reparierte und ihrem Gespräch aufmerksam zugehört hatte, nickte ihnen mit ernster Miene zu. »Muss ja nichts Großes sein. Nur ein paar starke Mauern an der Mole, vielleicht eine Kette für die Hafeneinfahrt und zwei, drei Katapulte. Das würde reichen.«
»Vom Kriegführen verstehe ich nichts«, meinte Krates. »Aber den Gedanken der Besetzung solltest du einmal meinem Vater erzählen.«
»Das kannst du auch selbst tun«, erwiderte Hippias und ließ einen flachen Stein übers Wasser hüpfen.
»Stimmt«, nickte Krates und musste plötzlich schmunzeln. »Ich habe übrigens neulich ein lustiges Paradoxon gehört, das mir Lysander, der Apfelverkäufer vom Markt erzählt hat. Ein verzwicktes Ding! Also pass auf: Wenn ich dir jetzt sage, Der Himmel ist wiesengrün, und das ist gelogen. Entspricht das der Wahrheit oder ist die Aussage falsch?«
Hippias kratzte sich am Kopf und lächelte, denn er fand das Rätsel lustig.
»Aber das ist doch ganz einfach. Die Aussage der Vorankündigung, dass du lügst, entspricht der Wahrheit. Die Aussage der Lüge aber bleibt die Unwahrheit, selbst wenn du sie vorher als solche angekündigt hast. Also hast du gelogen. Zufrieden?«
»Nein«, versuchte Krates seinen Standpunkt zu verteidigen. »Mir geht es um das Ganze. Ist die ganze Aussage richtig oder falsch?«
»Aber das ist doch Blödsinn, Krates. Wie willst du denn zwei Aussagen zu einer einzigen machen? Das geht doch gar nicht.«
Krates schüttelte ärgerlich den Kopf.
»So werden wir das Rätsel niemals lösen.«
»Aber wir haben es doch schon gelöst,« lachte Hippias. »Was verschwendest du deine Zeit mit diesem Unsinn?«
»Das ist kein Unsinn, sondern Philosophie.«
»Mag ja sein«, spottete Hippias.
»Aber was bringt dir die Philosophie? Mit Formeln wie der, die wir uns für Hyperides ausgedacht haben, kommst du doch viel weiter.«
»Da ist Lysander aber anderer Meinung.«
»Hört, hört«, höhnte Hippias, »ist Lysander jetzt dein neuer Lehrer? Der Apfelbauer vom Phylionberg? Was lehrt er dich denn? Die Anomalie von Äpfel und Birnen?«
Krates machte eine abweisende Handbewegung. »Du verstehst das nicht.«
»So«, erwiderte Hippias gereizt, der nun ebenfalls aufgestanden war, »du meinst also, ich verstehe das nicht. Weißt du was, Krates? Manchmal verstehe ich dich nicht.«
»Das musst du ja auch nicht.«
Krates war jetzt wütend. Er zurrte an seinem Gewand und wandte sich zum Gehen. Gekränkt stapfte er die breite Straße nach Mallos zurück. Freilich, Hippias war ein netter Kerl, aber seine herablassende Art konnte ihn manchmal zur Weißglut bringen. Und überhaupt: Seit wann war die Philosophie etwas Unsinniges?
Als er das Haus seines Vaters erreichte, schlug ihm der Duft von Linsen und Speck entgegen. Er folgte ihm in die Küche, wo ihn die alte Haussklavin begrüßte.
»Krates, mein Junge, wo bist du denn nur gewesen? Dein Vater fragte nach dir und deine Schwester hat dich gesucht.«
»Ich war auf dem Markt, Mela. Und danach am Hafen.«
»So, so«, wiederholte sie, »der Herr war also auf dem Markt. Na, da hättest du deinen Vater eigentlich treffen müssen. Der ist nämlich auch dort. Bei Hestia, und was hast du nur mit deinem Gewand gemacht? Ganz schmutzig ist es geworden. Wo hast du dich wieder hingesetzt, Krates?«
»Auf den Boden«, antwortete er und fügte mit einem verschmitzten Lächeln hinzu: »In Gaias Schoß.«
»Mach dich nicht über die Götter lustig! Denk an Prometheus.«
»Ach, Mela«, protestierte Krates, »hör mir doch auf mit Prometheus. Erstens bin ich nicht Prometheus, zweitens ist die Prometheussage ein Märchen und außerdem hat Prometheus ein Unrecht getan. Was aber ist Unrechtes daran, sich in Gaias Schoß zu setzen?«
»Bei allen Göttern«, entfuhr es der Sklavin, »du wirst es wohl nie begreifen. Aber an mich denkst du auch nicht, denn ich muss deine Gewänder immer waschen. So jedenfalls kannst du nicht rumlaufen. Was sollen denn die Leute denken?«
»Gibt es heute Linsen?« versuchte Krates abzulenken.
»Du sagst es. Aber erst, wenn du dir einen anderen Mantel umgehängt hast.«
»Schon gut«, besänftigte sie Krates und wandte sich zum Haupthaus. Die gute, alte Mela. Er kannte sie seit seiner Geburt, aber sie war viel mehr als nur seine Amme. Sie kochte und wusch die Wäsche, sie kaufte für die Familie ein und besorgte all die Dinge, die für den Haushalt wichtig waren. Krates hatte sie nie danach gefragt, wie alt sie sei, und auch über ihre Herkunft wusste er nichts. Er ahnte jedoch, dass Mela nicht immer unfrei gewesen sein konnte, und wollte ihr mit seinen Fragen nicht wehtun. Sein Vater behandelte sie gut und Krates wusste, dass sie einige Freiheiten genoss, von denen andere Sklaven in Mallos nur träumen konnten. Und sie war sicherlich der frommste Mensch, dem er je begegnet war, obwohl sich ihr Glaube allzu oft mit Aberglauben vermischte und Krates seine Mühe hatte, sie dafür nicht zu belächeln.
»Da bist du ja«, hörte Krates seine Schwester rufen, die gerade aus dem Haupthaus trat. »Wo warst du denn? Vater und Myron haben dich gesucht, weil sie irgendetwas mit dir besprechen wollten.«
»Grüß dich, Orthygia. Ich war auf dem Markt und später am Hafen. Ist Myron noch in der Nähe?«
»Nein, er ist wieder gegangen. Aber er lässt dich grüßen und bat darum, dass du zu ihm kommst. Ich nehme an, er ist jetzt wieder zu Hause.«
Krates dankte ihr und ging in sein Zimmer. Mela und die Leute konnten von ihm denken, was sie wollten, aber vor seinem Lehrer hatte er genügend Respekt, um ihm nicht mit schmutzigen Kleidern unter die Augen zu treten.
Als er kurz darauf in die Athenastraße einbog, stand die Sonne schon tief. Möwen kreisten über der Akropolis und die rege Betriebsamkeit der Stadt legte sich allmählich zugunsten der friedlichen Abendstimmung. Krates erreichte das Haus seines Lehrers und klopfte an die bronzebeschlagene Tür. Myron war schon ein alter Mann, der trotz seines Wohlstands keine Sklaven oder Haushaltshilfen besaß. Er war bescheiden und als Gelehrter in der Stadt allgemein respektiert. Er öffnete die Tür und sah seinen Schüler prüfend an. Dann bat er ihn, einzutreten und sich auf einem der Kissen im Hof des kleinen Hauses niederzulassen.
»Schön, dass du gekommen bist«, begann er das Gespräch. »Doch bevor wir anfangen, sag mir, worüber du dich geärgert hast.«
Krates war schon zu lange Myrons Schüler, um sich noch von seiner Menschenkenntnis überraschen zu lassen.
»Über das Urteil eines guten Freundes, Meister.«
Myron lächelte seinen Schüler mitfühlend an und forderte ihn mit einem leichten Kopfnicken auf fortzufahren.
»Wir rätselten über ein Paradoxon, das du wahrscheinlich kennst. Es geht um die Wahrhaftigkeit eines Menschen, der zugibt zu lügen. Mein Freund sagte, die Paradoxa seien Unsinn, weil sie zu nichts führten und nur verschwendete Zeit seien.«
»Und du bist da anderer Meinung?« fragte Myron.
»Aber ja!« bekräftigte Krates. »Ich gebe zu, dass ich von den Paradoxa nicht viel weiß, so gut wie gar nichts, um ehrlich zu sein. Aber sie sind unbestritten ein Teil der Philosophie. Und die Philosophie ist kein Unsinn und meiner Erfahrung nach auch alles andere als Zeitverschwendung.«
Myron nickte. »Ich weiß ja nicht, wie das vorhin abgelaufen ist. Aber kein Mensch kommt von sich aus auf die absurde Idee zu behaupten, die Philosophie sei Unsinn. Das kann nur einer sagen, der keine Ahnung hat. Oder aber einer, der seinen negativen Gefühlen Luft machen will. Ich nehme an, dass beides der Fall war, und das würde bedeuten, dass du in deiner Begeisterung ein bisschen zu sehr darauf bedacht warst, Recht zu behalten. Kann das sein?«
Krates wurde nachdenklich. »Das ist durchaus möglich.«
»Und wäre es auch möglich, dass dein Freund älter ist und von der Philosophie nicht annähernd halb so viel versteht wie du?«
Krates grinste verlegen, denn ihm wurde nun klar, was sein Lehrer ihm zu erklären versuchte. »Ja, auch das ist richtig.«
»Siehst du, Krates, keiner lässt sich gerne belehren und schon gar nicht von einem Jüngeren.«
»Aber wie hätte ich das vermeiden können?«
»Da gibt es eine Menge Möglichkeiten, aber die erörtern wir ein andermal. Lass uns jetzt lieber zu einem Thema kommen, über das ich heute Morgen mit deinem Vater gesprochen habe.«
Myron schaute seinen Schüler lange an, bevor er fortfuhr. »Ich unterrichte dich jetzt seit fünf Jahren, Krates, und ich kann wohl guten Gewissens sagen, dass du zu meinen besten Schülern zählst. Du begreifst sehr schnell und kannst dich gut ausdrücken. Ich will mich nicht in ein schlechtes Licht rücken, aber ich glaube, dass du von anderen Gelehrten mehr wirst lernen können, als ich dir noch beibringen kann. Deshalb möchte ich, dass du bald nach Tarsos gehst, um dort bei Dionysios Thrax zu studieren.«
»Dionysios?« entfuhr es Krates. »Dem Dionysios Thrax, der die Homerika analysiert hat?«
»Ich wusste, dass du dich an ihn erinnern würdest. Dionysios ist ein alter Schüler von mir. Wir trafen uns damals in Alexandria, als ich am Museion von König Ptolemaios lehrte. Als ich nach Mallos zurückkehrte, hatte er sein Studium beendet und hielt seine ersten Vorlesungen. Doch wie ich hörte, weilt er seit geraumer Zeit in Tarsos und unterrichtet dort für einige Jahre an der Akademie.«
Krates verschlug es den Atem. Hatte er richtig gehört? Er sollte in Tarsos studieren? Und dann auch noch bei einem so berühmten Mann wie Dionysios?
»Ich habe darüber heute Morgen mit deinem Vater gesprochen, und er zeigte sich einverstanden. Dionysios wird dir gefallen; er ist ein sehr strenger, aber auch lebensfroher Lehrer, mit dem man gut zechen und zu den entlegensten Zeiten philosophieren kann. Außerdem ist er ein exzellenter Analogiker.«»Oh Myron«, stammelte Krates, dem vor Glück die Worte fehlten.
»Schon gut, Junge. Über alles Weitere unterhalten wir uns besser mit deinem Vater. Ich schlage vor, dass wir uns morgen noch einmal zusammensetzen.« Damit erhob er sich und begleitete seinen Schüler zur Haustür.
Die Sonne war gerade dabei hinter den Bergen von Soloi unterzugehen und das Meer in orangerot zu entflammen, doch Krates sah nichts von alledem. Die Formel für Hyperides und sein Streit mit Hippias waren vergessen und er dachte nur noch an die Option, nach Tarsos zu gehen, um bei Dionysios Thrax zu studieren. Er hatte schon so viel von dieser Stadt gehört und war doch nie dagewesen, obwohl sie nur eine Tagesreise von Mallos entfernt lag. Wo würde er dort leben? Und wie würde es sein, bei Dionysios zu lernen?
Als er nach Hause kam, empfing ihn sein Vater mit einem breiten Lächeln.
»Wie ich sehe, hast du mit Myron gesprochen.«
»Das habe ich.«
»Und man sieht dir auch an, dass du seinem Vorschlag nicht abgeneigt bist. Na gut, mein Sohn, dann lass uns überlegen, wie wir diesen Plan in die Tat umsetzen.«
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