KRATES – Buch 1 – Kapitel 2

(Hörbuch) Das Krähen des alten Hahnes nahe der Stadtmauer ließ Krates erwachen. Verschlafen blinzelte er durch das offen stehende Fenster in den Morgenhimmel und dachte über seinen Traum nach, in dem er einen der Wettläufe im Gymnasion gewonnen hatte.
»Was für ein Unsinn«, murmelte er und erinnerte sich schmerzlich an den beißenden Spott seiner Mitschüler, wenn er selbst bei den einfachsten Rennen wieder einmal als Letzter ins Ziel gelaufen war. Er sammelte seine Gewänder ein und schlich leise die Treppe des Haupthauses hinunter, um sich am Brunnen zu waschen.

»Morgen, mein Junge!«
»Guten Morgen, Mela«, erwiderte Krates und nahm ihr dankend das Handtuch ab.
Aus der Küche schlug ihm der Geruch des Holzfeuers entgegen, das sie jeden Morgen noch vor Sonnenaufgang entfachte, um das Frühstück zu kochen.
»Wenn du dich angezogen hast, kannst du in die Küche kommen«, sagte sie. »Ich habe Bohnen warm gemacht und es ist auch noch ein bisschen Speck von gestern Abend übrig.«
Als er schließlich in der Küche saß und sein Frühstück zu sich nahm, erzählte er Mela von seinem Traum.
»Nun ja«, bemerkte sie, »immerhin finden nächste Woche die Apollinarien statt. So gesehen ist der Traum also gar nicht so ungewöhnlich. Läuft nicht auch dein Freund Hippias dort mit?«
»Natürlich, und bei ihm macht es ja auch Sinn. Ich denke, er hat gute Chancen.«

Mela sah ihn liebevoll an. »Du solltest nicht so hart mit dir sein. Seit dem Tod deiner Mutter habe ich mir immer gewünscht, du könntest einmal nach Hause kommen und erzählen, dass du eines der Rennen im Gymnasion gewonnen hast. Wie oft habe ich darum gebetet, dass mein kleiner Krates mit stolzgeschwellter Brust einen Sieg verkündet. Das hätte dich von deiner Trauer abgelenkt und den anderen Jungen gezeigt, was wirklich in dir steckt. Aber irgendwann wurde mir klar, dass dir die Götter eine andere Aufgabe gegeben haben. Du musst nicht im Rennen siegen. Das hast du gar nicht nötig, denn deine Stärken liegen in einer anderen Form von Wettkampf. Und darin bist du wirklich unschlagbar.« Mela wurde auf einmal sehr nachdenklich. »Freust du dich denn auf Tarsos?«

»Oh ja!« entfuhr es Krates, der nicht darauf achtete, welchen Schmerz er ihr damit bereitete. »Ich weiß zwar nicht, wie es sein wird, dort zu leben, aber ich kann es kaum erwarten; denn Tarsos hat nach Alexandria die beste Akademie des Ostens und ich kann mir, bei Zeus, nichts Schöneres vorstellen, als an einem Ort zu studieren, der so von Wissen überladen ist wie dieser!«
Mela schaute ihn traurig an. »Und wer wird dir Bohnen und Speck kochen und deine Pfannkuchen machen?«
»Ach, Mela! Was ist der beste Pfannkuchen gegen die Hohe Schule der …«

Krates hielt inne, denn er sah, dass sie weinte. Niedergeschlagen überquerte er den Hof und ging in sein Zimmer, wo er sich noch einmal die Textstelle aus Platons Gorgias vornahm, die ihm Myron letzte Woche aufgetragen hatte. Anfangs hatte er sich gegen dieses Auswendiglernen gesträubt, zumal seine Familie über genügend Geld verfügte, um ihm die Schriften der großen Philosophen auch zu kaufen. Doch Myron hatte auf seiner Methode bestanden und mit dem Argument, man könne nicht immer alle Schriften bei sich tragen, auch zweifelsohne Recht. Außerdem, sagte sich Krates immer, können Schriftrollen verloren gehen. Was er aber einmal im Kopf hatte, konnte ihm keiner mehr nehmen.

weiterlesen

Ein leises Klopfen riss ihn aus seinen Studien und seine Schwester trat ein.
»Oh, mein kleiner Bruder!« seufzte sie und setzte sich kopfschüttelnd auf die Ecke seines Bettes. »Was hast du nur mit Mela gemacht?«
Krates wusste sofort, was sie meinte.
»Weißt du, Krates, als Mutter starb, hat Mela ihre Aufgabe übernommen und dich großgezogen. Sie ist mit dir auf den Markt gegangen und hat dich zum Gymnasion gebracht. Sie hat sich um dich gekümmert, wenn du krank im Bett lagst, und sich mit dir gefreut, wenn du guter Dinge warst. Mela hat all das für dich getan, was auch jede Mutter für ihr Kind tut. Sie ist zwar nicht deine leibliche Mutter, aber sie fühlt so und wer könnte ihr das verübeln? Und da erzählst du ihr nun, wie herrlich es in der Ferne sei, und dass du es gar nicht erwarten kannst, nach Tarsos zu reisen. Natürlich hast du das nicht so gemeint, aber Mela muss ja denken, dass du froh bist, endlich von ihr wegzukommen.
»Das stimmt nicht!« protestierte Krates. »Das kann sie doch nicht ernsthaft denken?«
»Ich fürchte schon. Zumindest ist es so bei ihr angekommen. Aber vielleicht kannst du dich ja bei ihr entschuldigen.«
»Oh ja, das werde ich ganz sicher.«

Während Orthygia aufstand und das Zimmer verließ, blickte Krates verlegen auf seine Aufzeichnungen. An ein Weiterlernen war jetzt nicht mehr zu denken. Nachdenklich schaute er aus dem Fenster zu den Möwen, die in kreisenden Bahnen vom Meer Richtung Markt flogen, wo die Fischer schon seit einigen Stunden ihren Fang zum Verkauf anboten. Krates schämte sich für seine Gedankenlosigkeit, mit der er Mela verletzt hatte. Er klappte die Wachstafel zusammen und ging in den Hof. Am Treppenabsatz begegnete er seinem Vater
»Gehst du ins Rathaus?«
»Das muss ich wohl«, erwiderte Timokrates, »auch wenn ich mir den Weg eigentlich sparen könnte, denn die Debatte um den Hafen dreht sich ohnehin im Kreis. Alkibiades und seine Leute halten einen Angriff der Piraten für unwahrscheinlich und damit basta. Wir dagegen würden lieber auf Nummer sicher gehen. Und so steht Rede gegen Rede.«

»Da fällt mir übrigens etwas ein. Ich habe mich gestern mit Hippias unterhalten und er behauptete, die Ratsherren würden hauptsächlich über einen Angriff nachdenken, nicht aber an die Möglichkeit, dass sich die Piraten vielleicht nur des Hafens bemächtigen wollten. Stimmt das?«
»Weshalb sollten sie das tun?« wunderte sich Timokrates, der es noch nie erlebt hatte, dass sich sein Sohn für die Angelegenheiten des Stadtrates interessierte.
»Nun«, wiederholte Krates den Gedanken seines Freundes, »Hippias meinte, der Hafen sei für die Piraten an und für sich viel interessanter als unser Gold. Denn seine exponierte Lage am Kap von Magarsa böte die Möglichkeit, sich ohne viel Aufhebens der Schiffe zu bemächtigen, die an der Küste vorbeifahren und natürlich von weither zu sehen sind.«

Krates musterte seinen Vater und sah zu seinem Erstaunen, dass dieser angestrengt nachdachte. »Hippias meinte außerdem«, fuhr er fort, »dass der Verlust des Hafens langfristig ein genauso großes Übel wäre, denn so wären wir den Seehandel los und hätten den Feind quasi vor den Toren. Und einer der Fischer sagte, dass es gar nicht nötig wäre, Magarsa mit großartigen Bollwerken zu umgeben, sondern eigentlich schon ausreichen müsste, die Hafeneinfahrt mit einer Kette zu sperren und feindliche Schiffe mit ein paar Katapulten zu beschießen.«
Timokrates wanderte erhitzt durch den Hof. »Beim Poseidon, da hat er Recht! Warum sind wir nicht eher darauf gekommen? Der Hafen war für uns strategisch nie sonderlich interessant, aber nur deshalb, weil wir immer von der Landseite aus gedacht haben. Von der Seeseite aus gesehen, sind seine Vorzüge kaum zu überbieten.« Er fasste seinen Sohn an den Schultern und bedachte ihn mit anerkennenden Blicken. »Krates, mein Sohn. Ich danke dir! Ich werde mir gleich eine neue Rede ausdenken, um Alkibiades und seinen lahmen Haufen zu überzeugen. Und eine Kette oder ein paar Katapulte sollten nicht die Summe verschlingen, vor der sich diese Herren fürchten, beim Zeus!«

Krates holte sich einen Mantel und verließ ebenfalls das Haus, um Myron zu fragen, ob ihm ein gemeinsames Treffen am Nachmittag recht wäre. Nachdem er seinen Lehrer zu Hause erreicht und dessen Zusage erhalten hatte, machte er sich auf die Suche nach Hippias, um sich mit ihm zu versöhnen und ihm die Neuigkeiten zu erzählen, die sich seit gestern Abend ergeben hatten. Er vermutete ihn bei den Athleten des Gymnasions, gleich hinter dem Tempelbezirk des Apollon, in den gerade eine Herde von Stieren getrieben wurde, die bei den Opferzeremonien der kommenden Woche geschlachtet werden sollten.
»Krates!« rief Hippias freudig, als er ihn erkannt hatte. »Ich wusste, dass wir uns wieder einig werden. Darf ich dir Medion und Pausanias vorstellen? Pausanias ist der beste Springer von Mallos, Medion dagegen ein beachtlicher Faustkämpfer, mit dem man sich lieber nicht anlegen sollte. Möchtest du mit uns trainieren?«

»Nein«, lachte Krates, »ich war eigentlich nur gekommen, um dir die respektvollen Grüße meines Vaters auszurichten. Ich habe ihm heute von deinen Ansichten über den Hafen erzählt und er war davon überaus angetan.«
»Habt ihr das gehört?« prahlte Hippias in die Runde. »Der Sohn des Aristides erteilt dem Stadtrat gute Ratschläge.« Er verabschiedete sich von den beiden Wettkämpfern und ging mit Krates zu den Umkleideräumen.
»Wirst du bei den Apollinarien mitlaufen?« erkundigte sich Krates.
»Ja, deswegen war ich heute hier. Pausanias hat mir einiges über die Atemtechnik erzählt. Er war früher Botenjunge bei der Armee und kennt sich aus mit dem Laufen.«
»Ein sympathischer Kerl.«
»Oh ja«, seufzte Hippias, »und das sehen die Frauen genauso. Beim Apollon, so ein Glück will ich auch mal haben!«

Krates verließ das Gebäude und wartete auf den Stufen des Eingangs, während sich Hippias wusch und umzog. Am Horizont türmten sich die Wolken zu einem der ersten Spätsommergewitter auf. Wie das Wetter wohl in den Bergen ist, fragte er sich und dachte an seine ungewisse Zukunft in Tarsos.
»He, Mann!« riss ihn Hippias aus seinen Gedanken. »Wollen wir etwas essen?«
Gemeinsam schlenderten sie zum Marktplatz, setzten sie sich in die kleine Schenke gegenüber der heiligen Halle und bestellten sich jeder einen Rindfleischspieß und einen Becher Wein.
»Auf uns!« sagte Hippias, hob seinen Becher und fügte stolz hinzu: »Und auf unser geliebtes Mallos!«
»Ja, ich werde es in guter Erinnerung behalten.«
Hippias hätte sich beinahe am Wein verschluckt. Er setzte den Becher ab und blickte seinen Freund fassungslos an.
»Ich werde fortgehen, Hippias.«
»Wann? Weshalb? Wohin?«
»Nach Tarsos. Myron empfiehlt mich an die dortige Akademie, und es ist mir eine große Ehre, dieses Angebot wahrnehmen zu dürfen. Ich weiß zwar nicht, wann ich gehe, aber es wird bald sein. Vermutlich noch diesen Sommer.«

Hippias war bleich geworden. Ein Leben in Mallos war für ihn ohne seinen Freund Krates kaum vorstellbar. Und der erzählte von Tarsos, ohne mit der Wimper zu zucken. Eine Mischung aus Hilflosigkeit und Zorn stieg in ihm empor, dabei war er doch bis eben noch so guter Dinge gewesen.
Krates schien seine Gefühle zu erraten. »Nun komm schon, Tarsos ist nur eine Tagesreise von Mallos entfernt und wir werden uns sicher oft genug sehen.«
Hippias antwortete nicht, sondern schüttelte nur den Kopf. Ihm war klar, dass Krates das Angebot annehmen musste. Er war ein gescheiter Junge und die Lehrer in Tarsos würden ihn zu einem noch besseren Philosophen machen, dessen war er sicher. Aber wahrscheinlich würde es nicht dabei bleiben, und das machte ihm am meisten zu schaffen: Er glaubte an die Fähigkeiten seines jungen Freundes, deretwegen man ihn früher oder später abwerben würde. Nach Norden oder Westen oder an irgendeine sonstwo gelegene, unerreichbare Akademie. Hippias wusste dies und fühlte sich dennoch verraten. »Wie schön für dich«, sagte er nur und trank seinen Wein aus. Dann stand er auf, bezahlte die Rechnung und verließ die Schenke.

Krates saß benommen vor seinem halb leer gegessenen Teller und fragte sich, was er falsch gemacht hatte. Warum tat er nur jedem weh, dem er von Tarsos erzählte? Er wusste, dass Hippias um die gemeinsamen Tage trauerte, die ihm nun durch Krates’ Abreise genommen würden. Aber was war schon die Vorstellung von einer gemeinsamen Zukunft gegen die Erinnerung an ihre Vergangenheit? Krates war dankbar für jeden Moment, den er mit Hippias hatte teilen können, und klammerte sich nicht an irgendwelche Erwartungen, die sich gegebenenfalls nicht erfüllen ließen. Denn Erwartungen hatten für gewöhnlich die unangenehme Eigenart, das Erwartete, wenn es denn eintrag, als selbstverständlich hinzunehmen, dagegen aber in Alarm zu versetzen, falls es sich aus irgendwelchen Gründen nicht einstellen wollte. Sturer Bock!, schimpfte er wütend und verließ ebenfalls das Lokal.

Da es noch zu früh war, um schon zu Myron zu gehen, blieb Krates eine Weile auf dem Markt. Er schlenderte durch den Schatten der heiligen Halle, bis er plötzlich innehielt, weil er glaubte, seinen Namen gehört zu haben. Er blickte auf und sah über die bunt wogende Menge des Marktplatzes, bis sein Blick an der schräg gegenüberliegenden Werkstatt des Hyperides hängen blieb. Zielstrebig schob er sich durch die Menschenmassen und begrüßte den alten Vasenmaler.

»Du wirst es nicht glauben«, begann Hyperides aufgeregt. »Ich habe eure Formel ausprobiert und stell dir vor: Sie funktioniert! Schau …« Begeistert zog er Krates in seine Werkstatt, wo die zwei fertigen Mischkrüge standen. Hyperides nahm den kleineren, tauchte ihn in ein großes Fass mit Wasser und leerte ihn in den größeren. Dann wiederholte er das noch einmal und Krates konnte sich selbst davon überzeugen, dass der größere Mischkrug bis zum Anschlag voll war.
»Wunderbar!« lobte er den Vasenmaler. »Ich hätte nicht gedacht, dass sich unser Plan so einfach umsetzen ließ.«
»Nun«, erwiderte Hyperides schmunzelnd, »ich ehrlich gesagt auch nicht. Deshalb hatte ich euch ja gestern auch einen meiner Weinkrüge versprochen, erinnerst du dich? Das war vielleicht ein bisschen leichtsinnig, doch keiner soll behaupten, der alte Hyperides würde seine Versprechen nicht einhalten. Also such dir einen aus.«
Krates lachte und entschied sich für eine rotfigurige Vase mit dem Motiv eines bekleideten Satyrn, der sich mit einem jungen Mann unterhielt. Krates hatte die Vase gesehen und sofort gedacht, dass der Satyr die Gesichtszüge seines Lehrers aufwies, dem er den Weinkrug zum Abschied schenken wollte.

Mit der Vase im Arm kehrte er zunächst nach Hause zurück, um sich zu sammeln und sich auf das Gespräch mit Myron und seinem Vater vorzubereiten. Was konnte er zu diesem Gespräch überhaupt beitragen? Je mehr er darüber nachdachte, desto stärker wurde ihm die Tatsache bewusst, dass er so gut wie keine Ahnung hatte, wie sein Vater zu seiner philosophischen Begeisterung stand. Er konnte dem Ganzen nicht abgeneigt sein, sonst hätte er Myron nicht mit der Ausbildung seines Sohnes beauftragt. Und Krates wusste ja noch nicht einmal selbst, was er eigentlich wollte. Tarsos, dachte er angestrengt. Was wollte er nur in Tarsos, was begeisterte ihn so sehr an diesem Plan?

Er horchte tief in sich hinein und begriff, dass es eigentlich schon immer sein Wunsch gewesen war, genauso zu werden wie sein Lehrer Myron: Weise und besonnen, von jederman respektiert und über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt und geachtet. Um diesen Grad der Weisheit zu erlangen, benötigte man zunächst ein reiches Wissen und zum anderen eine gehörige Portion Erfahrung. Denn Weisheit, so glaubte er, war die Gabe, das gesammelte Wissen universell anwenden zu können. Um nun das Ziel der Erkenntnis zu erreichen, musste er weiterstudieren. Und um zu Erfahrungen zu gelangen, musste er seinen Horizont erweitern, was am besten ging, wenn er die Stadt verließ.
Als er an Myrons Tür klopfte, öffnete ihm zu seinem großen Erstaunen sein Vater. Timokrates grinste ihn schief an und schien vom Wein erheitert. Dann bat er seinen Sohn sich zu ihm und Myron in den Hof zu setzen und schenkte ihm eine Schale syrischen Wein ein. Krates wollte seinen Lehrer begrüßen, doch noch bevor er die Gelegenheit dazu ergreifen konnte, waren die beiden schon wieder in ein Streitgespräch vertieft, in dem es um die Gültigkeit der Katálepsis ging.

Die Katálepsis, erinnerte sich Krates, war eine Wahrnehmung, die vom Verstand auf ihre Richtigkeit hin überprüft worden war. Konnte man ihr zustimmen, so galt sie als wahrhaftig und diente im stoischen Erkenntnisprozess als Bindeglied zwischen der unsicheren Meinung und dem tatsächlichen Wissen. Aber was hatte sein Vater damit zu tun? Er hatte ihn nie über philosophische Themen reden hören und war sichtlich erstaunt über die Vertrautheit, mit der sie ihr Gespräch führten. Er beschloss sich zurückzuhalten und dem Gespräch einfach zuzuhören.
»Du behauptest also«, fasste Myron zusammen, »dass sich die verstandesgemäße Zustimmung eines Sinneseindrucks nicht zwangsläufig von der bloßen Meinung unterscheiden muss.«
»So ist es.«

»Das würde unseren Erkenntnisprozess ins Wanken bringen. Aber ich glaube nicht, dass du Recht hast. Wie willst du das begründen?«
»Nun«, lächelte Timokrates, »ich werde dir ein Beispiel geben: Du erinnerst dich vielleicht noch an die Zeit, als wir uns vor Jahren entschieden, den alten Apollontempel durch einen Neubau zu ersetzen; damals wandten wir uns an den berühmten Architekten Tauromenos, der schon den Artemistempel in Soloi und verschiedene andere Großbauten errichtet hatte.«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Als Tauromenos mit der Bauleitung begann, musste ich ihn öfters in seiner Hütte besuchen, um mit ihm den Fortgang der Arbeiten zu besprechen. Und da zeigte er mir eines Tages ein höchst erstaunliches Phänomen: Wenn wir nämlich auf eine exakte Gerade blicken, senkt unser Verstand die Mitte dieser Gerade leicht nach unten, woraus sich der Eindruck einer durchhängenden Sehne ergibt. Um das zu vermeiden, setzen die Architekten die Mitte ihrer Gebäude leicht nach oben, damit sie, wenn sie unser Verstand wieder nach unten senkt, auch wirklich als exakte Gerade wahrgenommen werden. Nun frage ich dich, Myron: War dir das bekannt?«

»Nein«, gab Myron zu und verzog das Gesicht, denn er ahnte, worauf Timokrates hinauswollte.
»Hätten wir uns beide vor den Tempel gestellt und uns über den Sinneseindruck der Geradlinigkeit der Tempellängsseite unterhalten, dann wärest du doch wohl ohne dein Wissen zu der durchaus verstandesgemäßen Entscheidung gekommen, dass wir uns vor einer exakten Gerade befinden.«
»Vermutlich hast du Recht«, räumte Myron ein.
»Fein«, sagte Timokrates, »und ich bin sicher, du hättest mir erzählt, dass dies eine gültige Katálepsis sei, weil die Wahrheit des Sinneseindrucks durch den Verstand verifiziert sei. Oder liege ich da falsch?«

»Ich fürchte nicht«, antwortete Myron und blickte betreten zu Boden. »Doch dies ist einer der Gründe, weswegen ich deinen Sohn lieber in den Händen der Tarsianer wüsste. Die dortigen Lehrer würden sich vor meinem alten Schüler nicht so einfach geschlagen geben, Timokrates.«
Krates hatte das bisherige Gespräch gebannt verfolgt, doch nach dem letzten Satz blickte er seinen Lehrer verwundert an. »Du hast meinen Vater unterrichtet?«
»Da staunst du, was Junge?« lachte Myron und fügte mit einem Augenzwinkern hinzu: »Damals war ich allerdings noch schlagfertiger.«
Krates lehnte sich in seine Kissen zurück und schaute seinen Vater ehrfürchtig an.
»Tja, mein Sohn«, gab dieser zurück, »das war schon mal ein kleiner Vorgeschmack auf die Analogie des Dionysios, die dich in Tarsos erwartet. In seinen Augen wirst du allerdings ein Schüler des Myron sein, und die Stoiker kommen bei den Herren aus Alexandria nicht allzu gut weg. Mach dich also auf einiges gefasst!«

Krates konnte es immer noch nicht glauben. Vor kurzem noch hatte er sich gefragt, wie sein Vater zu den philosophischen Neigungen seines Sohnes stünde, und nun erfuhr er, dass sie sogar den gleichen Lehrer gehabt hatten. Er wollte ihn etwas fragen, traute sich aber nicht und war um so erstaunter, als ihm sein Vater die Frage an den Augen ablas.
»Du fragst dich insgeheim, ob ich mit deinen Tarsos-Plänen überhaupt einverstanden bin, nicht wahr?«
Krates nickte nur.
»Das bin ich voll und ganz«, bekräftigte Timokrates. »Und nach allem, was du eben mitbekommen hast, müsstest du auch wissen, weshalb.«
Da ihn Krates nur unverwandt ansah, fuhr er fort: »Ich halte sehr viel von der Stoa, sonst hätte ich meinen alten Lehrer kaum gebeten, sich um deine Ausbildung zu kümmern. Und Myron erzählte mir, dass du dich in letzter Zeit sehr um den Gorgias bemüht hättest. Das ist gut, denn so wichtig das Reden auch sein mag, was Sokrates dich lehrt, ist das Verstehen und, fast noch wichtiger, das Zuhören.
Nun besteht, wie du sicher weißt, eine der stoischen Grundfesten aus dem Wissen, das sich durch keine Argumentation widerlegen lässt. Wer aber nur einen Lehrer gehabt hat, kann gar nicht wissen, ob das, was er zu wissen glaubt, wirklich wahr ist, weil er es nämlich nie in Frage stellen und auch vor niemandem je verteidigen musste. Zum anderen habe ich diesen Dionysios einmal kennengelernt und kann guten Gewissens sagen, dass er der beste Mann ist, um dich auf deinem weiteren Weg zu begleiten.«

»Du kennst Dionysios?« fiel ihm Krates ins Wort.
»Und ob«, lachte Timokrates. »Damals, als ich gerade deine Mutter kennen gelernt hatte, schickte mich der Stadtrat von Mallos mit einer Gesandtschaft an den Königshof von Alexandria. Dort traf ich meinen alten Lehrer Myron wieder und lernte auch Dionysios kennen. Und ich kann dir sagen …« Timokrates lächelte versonnen, während er noch einen großen Schluck Wein trank. »Ich habe sie miteinander streiten sehen. Wenn du deinen Lehrer Myron wirklich verstehen willst, dann lerne bei Dionysios. Die beiden sind so unterschiedlich wie Tag und Nacht und obwohl ich sie nur selten einer Meinung erlebt habe, sind sie doch die besten Freunde, die ich mir vorstellen kann.«
Krates strahlte vor Glück.

»Um deine Zukunft«, fuhr Timokrates fort, »brauchst du dich nicht zu sorgen. Wenn du die Ausbildung in Tarsos hinter dir hast, werden sich schon genügend Möglichkeiten bieten. Wir sollten uns lieber noch darüber unterhalten, wann du am besten abreist.«
»So schnell wie möglich«, mischte sich Myron ein. »Ich weiß nicht, wann Dionysios mit seinen Vorlesungen anfängt, aber der reguläre Betrieb der Akademie beginnt im Herbst, und der steht vor der Tür.«
»Du hast Recht«, wandte Timokrates ein. »Ich würde einen Termin in der Woche nach den Apollinarien vorschlagen. Soweit ich weiß, schickt Timarchos bald eine Karawane nach Ankyra, die hinter Tarsos die Kilikische Pforte passiert. Die könnte dich mitnehmen.«
Krates bekam Herzklopfen. In weniger als zehn Tagen, dachte er freudig, ließ sich seine Aufregung aber nicht anmerken.
»Ich werde Dionysios eine Empfehlung für dich mitgeben«, sagte Myron und ritzte sich eine Notiz auf eine Tonscherbe.
»Und von mir«, lachte Timokrates, »bestellst du ihm die allerbesten Grüße.«
»In diesem Sinne«, schloss Myron und hob feierlich seine Weinschale. »Trinken wir darauf, dass Krates eine glanzvolle Zeit erwartet. Auf Tarsos!«
»Auf Tarsos!« rief Timokrates.
»Auf Tarsos«, begeisterte sich auch Krates.

Seitenanfang

 

PROLOG | Kapitel 1 | Kapitel 2 | Kapitel 3 | Kapitel 4 | Kapitel 5 | Kapitel 6 | Kapitel 7 | Kapitel 8 | Buch 2