KRATES – Buch 1 – Kapitel 3

(Hörbuch) Die Woche bis zu den Apollinarien verging wie im Fluge. Mallos erlebte sein erstes Herbstgewitter und die Naturgewalten hatten all den Staub und Gestank des Sommers aus den Gassen vertrieben. Mela warf sich vollends in die Aufgabe, Krates’ Sachen zu waschen und sie fein säuberlich in Leinensäcke zu verpacken, die er mit auf die Reise nehmen sollte. Sie war in diesen Tagen sehr wortkarg geworden und Krates wusste um ihre Gründe. Doch er bemühte sich sie immer wieder durch kleine Überraschungen aufzumuntern und nahm sich fest vor, ihr zum Abschied ein schönes Kleid zu schenken, für dessen Auswahl er seine Schwester Orthygia gewinnen konnte.

Je näher die Festtage des Apollon rückten, desto geschäftiger wurde die Stadt. Aus dem Norden reisten fahrende Schausteller nach Mallos und aus den benachbarten Bauerndörfern kamen Scharen von Händlern, die ihre Handarbeiten und Fransen feilboten, ihr Feingebäck und alle möglichen Zaubermittelchen gegen dieses und jenes. Die Fischer von Magarsa verkauften allerorts ihre Meeresspezialitäten; geräucherte Makrelen, Muscheln mit Reis oder gebratene Tintenfischringe. Und so glichen die Straßen und Gassen der Stadt schon am Vorabend der Apollinarien einem einzigen Jahrmarkt, auf dem getrunken und gesungen, getanzt und gefeiert wurde.

Krates machte sich auf den Weg, um Hippias zu treffen, doch er konnte ihn nicht finden. Statt dessen trank er hier und dort einen Becher Wein, tanzte zu den Rhythmen der Straßenmusikanten und kehrte schließlich spät in der Nacht und ziemlich betrunken nach Hause zurück.
Mela war fast froh, als sie ihn in diesem Zustand in den Hof wanken sah. Denn auch, wenn es Krates in den kommenden Stunden vermutlich sehr schlecht gehen würde, gehörten doch diese Momente nur ihr allein.

»Hallo, Mela«, lallte ihr Krates entgegen.
»Mein Krates«, erwiderte sie nur und nahm ihm den Mantel ab. »Komm in die Küche. Ich mache dir noch ein bisschen Grütze warm.«
»Nein«, protestierte Krates müde, »ich will nichts mehr essen.«
»Aber einen Kräutertee wirst du noch trinken, oder? Der hat dir doch bisher immer geholfen.«

Krates ließ sich schwerfällig auf die Küchenbank fallen, während Mela einen brennenden Span aus dem Feuer nahm und eine Öllampe anzündete.
»All diese Menschen …«, stammelte er. »Ob es in Tarsos auch solche Feste gibt?«
»Bestimmt«, antwortete Mela, »aber dort musst du vorsichtiger sein, denn in Tarsos wird dich wohl keiner empfangen und dir Kräutertees kochen.«
»Das ist wahr«, sagte Krates traurig und er wusste nicht, ob er lieber weinen oder einschlafen sollte. Ein heftiger Schwindel weckte ihn aus seinem Dämmerzustand und er würgte, weil er sich übergeben musste. Mela hielt ihm einen Eimer hin, in den er sich entleeren konnte. Dann reichte sie ihm einen Becher mit kaltem Wasser und ein Handtuch.

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So, Krates«, sagte sie, als er sich wieder einigermaßen erholt hatte, und stellte ihm den dampfenden Kräutertee hin. »Den schlimmsten Teil hast du hinter dir. Jetzt nimmst du noch diesen Nachttrunk und dann legst du dich hin und schläfst dich aus, ja?«
»In Ordnung«, stimmte Krates zu und schielte auf seinen heißen Becher. »Weißt du, Mela«, sagte er niedergeschlagen, »du hast uns all die Jahre so gut versorgt, dass ich dir die Freiheit schenken würde, wenn ich mein Vater wäre. Aber ich bin nun mal Krates und für Krates bist du die Mutter, die er sich immer gewünscht hat. Seine Mutter aber kann man nicht freilassen. Die muss bleiben, verstehst du?«

Mela stand wie angewurzelt in der Küche und rang um ihre Fassung. Unter anderen Vorzeichen hätte sie jetzt wahrscheinlich laut losgelacht, denn Krates war kein Meister romantischer Liebeserklärungen, was vielleicht auch der Grund dafür war, dass er noch nie ein Mädchen mit nach Hause gebracht hatte. Aber die holperige Art, mit der er seine Liebe ausdrückte, änderte nichts an der Tatsache, dass er es tat. Mela sah den Jungen lange an und es war, als bestünde zwischen ihnen ein feines Band innigen Einverständnisses, das sie für kurze Zeit zusammenschweißte. Sie hätte diesen Moment gerne noch länger genossen, doch sie wollte das Band nicht reißen lassen, deshalb setzte sie sich zu ihm, drückte seinen Kopf sachte an sich und streichelte ihm über das Haar, wie sie es früher immer getan hatte.

Schweigend saßen sie so und auf einmal brach aus Krates all der Schmerz hervor, an den er schon so oft gedacht, ihn aber nie zugelassen hatte. Der Schmerz über den baldigen Verlust seiner Mela. Er vergrub den Kopf an ihrer Brust und schluchzte so herzergreifend, dass auch Mela zu weinen begann. Als sie sich langsam beruhigten, erkannten beide, dass dies der Abschied gewesen war, den sich keiner von ihnen so recht hatte vorstellen können.
Sie wischten sich die Tränen aus den Augen und standen auf. Der Mond war aus den Wolken hervorgebrochen und tauchte den Hof in ein fahles Licht. Krates drückte Mela einen Kuss auf die Stirn und wünschte ihr eine gute Nacht. Dann ging er zielstrebig zum Brunnen, wusch sich das Gesicht und schlich leise in sein Zimmer, wo er bald in einen tiefen und erholsamen Schlaf fiel.

Als er am nächsten Morgen erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel und er hörte durch das Fenster die Rhythmen der Trommler und Flötenspieler, die zu Ehren Apollons und zu Gunsten ihrer Geldbeutel durch die Straßen zogen und musizierten. Er stand auf und schaute verstohlen aus dem Fenster. Krates hatte keine Ahnung, wie spät es sein mochte, denn man hatte ihn offensichtlich schlafen lassen. Dem Sonnenstand nach musste es jedoch schon kurz vor Mittag sein. Er kratzte sich verlegen am Kopf und überlegte, wann er wohl zum letzten Mal so lange geschlafen hatte. Aber er fühlte sich gut. Keine Kopfschmerzen, kein Übelsein, er hatte die durchzechte Nacht gut überstanden. Als er sein Zimmer verließ, hörte er ein leises Pfeifen.

»Na, Brüderchen?« spottete Orthygia. »Ausgeschlafen?«
»Oh, ja, und mächtig hungrig! Was willst du?«
»Ich möchte dir etwas zeigen«, sagte sie und zog ihn in ihr Zimmer, wo sie aus einer Holzkiste einen smaragdgrünen Stoff hervorholte. »Du hattest mich doch gebeten für Mela ein Kleid zu besorgen. Und ich glaube, ich habe genau das Richtige gefunden. Schau her.« Sie entfaltete das Tuch und hielt es sich an.
»Bei allen Göttern!« staunte Krates, als er seine Schwester mit dem Kleid sah. »Es ist wunderschön.«

Der dunkelgrüne Stoff war fein gewebt und hatte an den Rändern rotblau verzierte Borten. Krates wurde auf einmal bewusst, dass eine Sklavin, auch wenn sie ihn groß gezogen hatte und von seiner Familie gut behandelt wurde, natürlich nicht die gleichen Kleider tragen konnte wie zum Beispiel seine Schwester. Doch dieses Kleid brachte seinen Besitzer bestimmt nicht in Verlegenheit. Es war schlicht, aber dennoch schön anzusehen. Seiner Freude, dass ihm Orthygia so fachkundig geholfen hatte, folgte unmittelbar die Befürchtung, dass sie dafür mehr ausgegeben habe, als er sich leisten konnte. Doch sie konnte ihn beruhigen.

»Ich habe das Kleid gestern bei einem Händler erstanden, bei dem ich schon öfter eingekauft habe. Und er hat mir einen anständigen Preis dafür gemacht.«
»Und was ist ein anständiger Preis?«
»Fünfzehn Drachmen. Das ist wirklich günstig.«
»Und ob!« bekräftigte Krates, der sich den Stoff daraufhin noch einmal genauer ansah. »Kaum zu glauben, dass man so ein Kleid für fünfzehn Drachmen bekommt. Aber welcher Händler kann deinem Lächeln schon widerstehen.« Er zog seinen Geldbeutel hervor und gab ihr die fünfzehn Silbermünzen zurück. Dann ging er endlich nach unten, wusch sich kurz und begab sich hungrig in die Küche.

Mela war nicht da, weil sie vermutlich auf dem Markt einkaufte, aber das kam ihm ganz gelegen. Er nahm sich aus den Töpfen, was vom Morgen übrig geblieben war, und überlegte während seines Frühstücks, was er bis zu seiner Abreise noch alles erledigen musste.
Frisch gestärkt und mit einem festlichen Mantel bekleidet machte er sich schließlich auf den Weg zum Stadion, um sich die heiligen Wettkämpfe anzusehen, die jedes Jahr zu Ehren Apollons ausgetragen wurden und bei denen ja auch Hippias mitwirkte. Die Straßen waren voll von Menschen, die er kannte, aber auch vielen, die aus dem Umland nach Mallos gekommen waren. Der Regen der vergangenen Tage hatte den Hausmauern ihre Hitze entzogen und so war es an diesem spätsommerlichen Festtag zwar angenehm warm, aber nicht so drückend wie in den letzten Monaten.

Am Stadion angelangt, reihte er sich in die Warteschlange vor dem Einlass und traf auf Stephanos, einen der Ratsherren von Mallos, der offensichtlich seine ganze Familie mitgebracht hatte.
»Sei gegrüßt, Sohn des Timokrates!«
Krates erwiderte den Gruß und nickte den Anderen zu.
»Hallo, Krates«, rief der kleine Zenodotos, den Stephanos an der Hand führte. »Ich hab gehört, du gehst nach Tarsos?«
»Stimmt, in vier Tagen bin ich weg.«

»Du reitest mit Timarchos’ Leuten?« fragte Stephanos.
»Ja, mein Vater hat das arrangiert. Aber genaueres weiß ich selbst noch nicht.«
»Ich will auch nach Tarsos!« quäkte Zenodotos.
»Später«, lächelte Stephanos. »Erst mal musst du so groß werden wie Krates. Und dann können wir überlegen, ob die Akademie in Tarsos das Richtige für dich ist.«
»Nun …«, sagte Krates und blickte Stephanos hilfesuchend an.
»Eine Schule für Philosophen«, antwortete Stephanos kurz.
»Ist Krates denn ein Philosoph?«
»Na ja, ich bin dabei, einer zu werden.«
»Dann will ich auch Philosoph werden.«
»Mach das, Zeno. Aber erst mal musst du auf deinen Vater hören und wachsen.«

Die Wartenden rückten auf und so gelangten sie nach einem längeren Gespräch über Timokrates’ Rede und den jetzt wohl bevorstehenden Beschluss zu Gunsten einer Hafenbefestigung zu ihren Sitzplätzen. Krates hatte sich an der Agorastraße zwei Sesamkringel gekauft und blickte nun in die wogende Menge der Stadionzuschauer.
Ein Raunen ging durch die Tribünen, als sich ein kleiner Pulk von Wettläufern an der Startschwelle einfand. Die Festspiele begannen mit dem Diaulos, einem Wettkampf, bei dem die Läufer vom einen Stadionende zum anderen liefen, dort einen Pfosten umrundeten und in entgegengesetzter Richtung wieder zurück zur Startschwelle laufen mussten. Krates versuchte unter den Wettläufern seinen Freund Hippias zu finden, und tatsächlich, da war er: Hünenhaft und durchtrainiert, braungebrannt und von stattlichem Ansehen. Hippias stand auf der mittleren Bahn und Krates fragte sich, ob er ihn wohl erkennen konnte, wenn er unter seinem Rang die Hälfte des Stadions passieren würde.

Schließlich riefen die Kampfrichter zum Start. Die Läufer sprinteten los und Hippias kämpfte sich schnell in die vorderste Reihe. Als einer der ersten hatte er den Pfosten umrundet und befand sich schon auf dem Rückweg, als er plötzlich in die Zuschauerränge blickte und dort seinen Freund Krates entdeckte. Und in jenem Moment, als sich ihre Blicke trafen, passierte etwas sehr Merkwürdiges. Hippias strauchelte, drohte hinzufallen, nahm alle seine Kräfte zusammen und rannte weiter als ginge es um sein Leben. Einem inneren Impuls folgend sprang Krates von seinem Sitzplatz auf, ballte die Fäuste und rief Hippias’ Namen. Andere Zuschauer taten es ihm gleich, vielleicht weil sie dachten, dieser Wettkämpfer sei der Lokalfavorit von Mallos und so stand bald das halbe Stadion und skandierte einstimmig Hippias’ Namen. Auf die übrigen Wettläufer, vor allem auf jene, die ihn in dem kurzen Moment seiner Abgelenktheit schon überholt hatten, wirkte dieser einheitliche Schlachtruf irritierend, doch Hippias fühlte sich bestärkt und er holte sie alle wieder ein. Wie ein Pfeil schoss er an ihnen vorbei und als er über die Ziellinie flog, brach die Zuschauermenge in ein tosendes Freudengeschrei aus. Hippias hatte den Diaulos gewonnen und wie es schien, war er obendrein noch zum Volkshelden von Mallos geworden.

Als ihm die Kampfrichter den Ölzweig des Siegers überreichten, strahlte er in die Menge und wieder kreuzten sich ihre Blicke. Doch diesmal sah Krates im Blick seines Freundes nichts anderes als das triumphierende Lachen, das er an ihm so sehr mochte. Der nächste Wettlauf schien noch auf sich warten zu lassen und eine Gruppe von Flötenspielern, Trommlern und Tänzern sorgte mit ihrem Auftritt für Stimmung. Krates hatte genug gesehen und begab sich in die Arena, um Hippias zu seinem Sieg zu gratulieren.

»Du warst großartig!« lobte er ihn und drückte ihm bewundernd die Schulter. »Und ich beglückwünsche dich zu deinem Sieg.«
Hippias lachte. »Mit dem es übrigens eine besondere Bewandtnis hat. Denn in jenem kurzen Moment, als ich dich gesehen hatte, ist mir etwas Wunderbares klar geworden. Aber das erzähle ich dir gleich in aller Ruhe. Ich will mich nur noch kurz waschen und umziehen. Danach gehen wir zusammen essen und vor allem etwas trinken. Ich sterbe nämlich vor Durst.«
Als Hippias zurückkam, gewaschen und gekämmt und in einem leuchtend blauen Mantel, an dem der Ölzweig seines Sieges baumelte, legte er Krates freundschaftlich den Arm über die Schulter.

»Beim Apollon, Krates! Das war eben der größte Sieg meiner bisherigen Sportkarriere. Und außerdem«, fügte er lächelnd hinzu, während sie aus dem Stadion schritten, »möchte ich dir sagen, dass ich mich freue, wenn du nach Tarsos gehst.«
Krates verschlug es die Sprache. Misstrauisch blickte er in das strahlende Gesicht seines Freundes und suchte nach irgendwelchen Anzeichen für einen Hintersinn, doch er konnte nichts derartiges finden. So blinzelte er ihn nur ungläubig an und wartete auf eine Erklärung.
»Weißt du«, fuhr Hippias fort, »als ich dich vorhin beim Wettlauf unter den Zuschauern entdeckte, wurde mir wieder bewusst, dass du ja fortgehst und ich hier bleiben muss. Das hätte mich fast zu Fall gebracht, machte mich andererseits aber auch so zornig, dass ich allein deswegen weitergelaufen wäre, nur um mich abzureagieren. Und schließlich erkannte ich, dass du da auf den Zuschauerrängen sitzt, um mich anzufeuern, wie ich meinen Weg gehe. Warum also um alles in der Welt sollte ich dir zürnen, wenn du dich entschlossen hast, deinen eigenen Weg zu gehen?«
»Ja, warum?« Krates lachte und schaute seinem Freund dabei aufmunternd in die Augen.
»Ich weiß es nicht. Ich denke, es gibt keinen Grund, der unter Freunden gelten könnte. Wenn du mir also versprichst, dass wir Freunde bleiben, wohin auch immer es dich verschlägt, dann wird es mir eine Ehre sein, an deinem Wegesrand zu stehen und dir eine gute Reise zu wünschen.«
»Das ist ein Wort!« Krates blieb stehen, um seinem Freund feierlich die Hand zu reichen. Hippias schlug ein und so wurde auch ihnen plötzlich klar, dass sie damit die Schwelle des bevorstehenden Abschieds mühelos überschritten hatten.

Nach dem Essen ging Krates nach Hause, um sich umzuziehen und die Vase zu holen, die er seinem Lehrer zum Abschied schenken wollte. Die Straßen waren nun dermaßen voll, dass er einige Mühe hatte, sich durch die Massen zu schieben und den Weinkrug unbeschadet zu Myrons Haus zu tragen. Da die Athenastraße eine Sackgasse war, befanden sich dort nur wenige Menschen, die mit den Apollinarien zu tun hatten und Krates genoss die Ruhe, in die er plötzlich eintauchte, als er vor Myrons Häuschen stand und an seine Tür klopfte.
Es dauerte eine Weile, bis der alte Mann das Klopfen gehört hatte und seinem Schüler die Tür öffnete. Beim Anblick der Vase hob er seine buschigen Augenbrauen und bat Krates einzutreten. Schweigend gingen sie in den Hof des Hauses und ließen sich auf den Kissen nieder.

»Wie schön ruhig es hier ist«, bemerkte Krates.
»Oh, ja.« Myron schaute in die Krone der alten Pinie, die in seinem Hof stand. »Ich liebe diesen Frieden, vor allem während der Festtage, wenn man sich in der Stadt vor dem Trubel kaum noch retten kann. Nimm dir ruhig Zeit, Krates. Lass die Ruhe auf dich wirken und entspann dich.«
Ein Windstoß raschelte in den Ästen der Pinie und übertönte zeitweilig das monotone Zirpen der Grillen, die irgendwo auf dem Dach sitzen mussten. Krates atmete tief durch und spürte einen Hauch von Wehmut in sich aufsteigen.
»Myron«, begann er schließlich, »ich möchte dir zum Abschied diese Vase schenken. Ich konnte einfach nicht an ihr vorbeigehen, weil mich die Züge des auf ihr abgebildeten Satyrn so sehr an dich erinnern.«
»Na«, lachte Myron, »hoffentlich ist das kein versteckter Hinweis darauf, dass ich dir in den letzten Jahren nur schwatzhaften Unsinn beigebracht habe. Aber sie ist wirklich schön und ich möchte dir danken.«

Er hielt für einen kurzen Moment inne und strich dabei nachdenklich über die Vase. »Hat dir dein Vater schon gesagt, wann es für dich losgeht?«
»Nein.«
»Nun, wenn ich es richtig verstanden habe, wirst du uns übermorgen früh verlassen. Nimm deine Wachstafeln mit, deine Federn und ein wenig Tinte. Papyrus wirst du wohl ebenfalls brauchen, aber den kannst du dir auch getrost erst in Tarsos zulegen.
Dionysios gegenüber solltest du immer ehrlich sein. Versuche nicht, ihn zu täuschen. Er würde es dir nicht durchgehen lassen.«
»Gibt es sonst etwas, worauf ich dringend achten müsste?«
»Nein«, antwortete Myron und erhob sich. »Alles Weitere wirst du vor Ort erfahren. Und ich beneide dich jetzt schon um die Erfahrung, mit anderen zusammen zu studieren. Du wirst sehen, das Lernen bringt um ein Vielfaches mehr Spaß, wenn man sein Wissen mit anderen teilen kann.«
»Ich danke dir«, sagte Krates und stand ebenfalls auf.

Myron reichte ihm das versiegelte Empfehlungsschreiben und bat ihn, Dionysios seine herzlichsten Grüße auszurichten. »Ich muss für ein paar Tage nach Soloi und werde morgen in aller Frühe aufbrechen. Ich werde also nicht dabei sein, wenn du dich mit deinem Pferd in Richtung Tarsos aufmachst. Aber meine Gedanken sind bei dir und alle meine guten Wünsche …«
Myrons Stimme wurde so leise, dass ihn Krates kaum noch verstehen konnte. Tränen liefen dem alten Mann über die Wangen, während er Krates umarmte und ihn zum Abschied auf die Stirn küsste. Dann nahm er ihn bei den Schultern und blickte ihn fest an. »Ich wünsche dir eine gute Reise, mein Junge. Und denk immer an das, was ich dir heute gesagt habe.«
Krates war zu erschüttert, um etwas erwidern zu können. Er wollte vor seinem Lehrer nicht weinen, auch wenn er sich am liebsten in seine Arme geworfen und laut losgeheult hätte. Doch er beherrschte sich und trat tapfer den Heimweg an, um noch einmal über alles nachzudenken, was ihm Myron bei diesem Abschiedsgespräch erzählt hatte.

Als er nach Hause kam, erwartete ihn Orthygia und bat ihn, mit ihr und ein paar Freundinnen auf die Agora zu ziehen, um noch ein letztes Mal gemeinsam zu trinken und zu tanzen. Eigentlich war ihm nicht nach Feiern zumute, doch Orthygia setzte all ihren Charme ein, um ihn wieder aufzumuntern. Und so zogen sie schließlich doch noch durch die Straßen, betranken sich schamlos und tanzten zu den wilden Klängen der Straßenmusikanten. Krates war glücklich und stolz und genoss die neidischen Blicke der anderen Männer, die ja nicht wissen konnten, dass die hübsche junge Frau an seiner Seite seine Schwester war. Unterwegs trafen sie ihren Vater, der mit Stephanos und einigen anderen Stadträten durch die Straßen zog. Sie nahmen ihn in ihre Mitte und ließen keinen Stand aus. Als die drei schließlich spät in der Nacht und sturzbetrunken nach Hause kamen, konnte sich Mela vor Lachen kaum noch halten. Sie ließ die Familie auf der Küchenbank Platz nehmen, braute ihren berühmten Kräutertee und wünschte ihnen schließlich eine gute Nacht.

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