KRATES – Buch 1 – Kapitel 6

(Hörbuch) Am Tag vor dem offiziellen Semesterbeginn fragte Agathon, ob Krates nicht Lust habe, gemeinsam mit ihm, den Brüdern Glaukos und Kreon und vier anderen Studenten ins Theater zu gehen und anschließend in der Stadt noch einen Wein zu trinken. Krates freute sich über die Abwechslung und willigte ein. Es war ein sonniger Nachmittag, als sie mit ein paar warmen Decken zum Theater unterhalb der Akropolis wanderten. Vor dem Eingang erstanden sie eine große Tüte mit gerösteten Nüssen und setzten sich in den obersten Rang. Die Aufführung war eine gelungene Inszenierung der ›Antigone‹ von Sophokles und die Schauspieler waren wirklich großartig, mit einer Ausnahme vielleicht, die auch für die einzige, obwohl sicher unbeabsichtigte komische Stelle sorgte. Der Schauspieler nämlich, der den Haimon spielte, hatte einen unüberhörbaren Sprachfehler und war überdies in seiner Rolle so schlecht, dass das Publikum bei der Botschaft seines dramatischen Selbstmordes in Jubel ausbrach. Die Zuschauer johlten und klatschten, pfiffen auf den Fingern und freuten sich über den lang ersehnten Abgang dieses Stümpers. In den Phasen der Chorgesänge mit ihren sich endlos wiederholenden Refrains genoss Krates den Ausblick über das Bühnenhaus auf die weite Ebene und das am Horizont blinkende Meer.

Als die Vorstellung beendet war, folgten sie dem Strom der Zuschauer ins Freie. Agathon schwärmte von einer kleinen Weinschenke am Fuße der Akropolis und so folgten sie ihm ins Gassengewirr des Peribolos. Krates, der noch keine der hiesigen Weinstuben von innen gesehen hatte, staunte nicht schlecht, als er sich in einem eher gehobenen Ambiente wiederfand, in dem sich die Gäste gepflegt und ungestört miteinander unterhalten konnten, ohne das in den Schenken sonst übliche Fluchen und lautstarke Auftreten der Betrunkenen.
»Eine beeindruckende Aufführung«, kommentierte Pisdes, nachdem sie sich an einen Tisch gesetzt hatten und auf ihren bestellten Wein warteten.
»Wohl wahr«, entgegnete Kreon. »Derlei dürftet ihr in Olbasa nicht allzuoft zu sehen bekommen, was?«
Pisdes lachte. »Wir haben ja noch nicht einmal ein Theater. Aber es soll demnächst eines gebaut werden.«
»Bei euch gibt es kein Theater?« fragte Krates erstaunt.
»Olbasa«, erklärte ihm Agathon, »ist ein winziges Nest in Pisidien. Ich glaube, der Ort hat kaum mehr als achthundert Einwohner. Ein paar Häuser, ein paar öffentliche Brunnen, einen Tempel und ein Rathaus, mehr gibt es dort nicht. Aber der Ort liegt in den Bergen und außerdem an einem der für den Ost-West-Handel wichtigsten Pässe. Deshalb werden diese Provinzler überhaupt beachtet.«

Krates warf Pisdes einen fragenden Blick zu, doch dieser war den Spott offensichtlich schon gewohnt und lachte nur.
»Pisdes’ Vater«, fuhr Agathon fort, »ist Ratsherr und weil er der Meinung war, dass diese Tradition in der Familie bleiben sollte, schickte er seinen Sohn auf die Akademie von Tarsos.«
Krates fühlte sich Pisdes sofort verbunden. »Aber Pisidien«, gab er zu bedenken, »liegt doch einige Tagesreisen von hier entfernt. Gab es da keine näher gelegene Schule?«

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Glaukos bedachte ihn mit einem dünnen Lächeln. »Geographisch schon. Politisch nicht.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Schau«, erklärte ihm Agathon, »Olbasa gehört genauso wie alle anderen Städte Pisidiens zum Pergameni-schen Hoheitsgebiet. Geographisch gesehen liegen die berühmten Schulen von Rhodos natürlich nur einen Katzensprung entfernt, aber die Rhodier und die Pergamener können sich nun mal nicht leiden. Und weil Pisdes’ alter Herr im Stadtrat sitzt, kann er seinen Sohn für dessen Ausbildung schlecht ins Feindesland schicken.«

Der Wirt brachte den Wein und stellte ihn gemeinsam mit einem Krug Wasser und acht Bechern auf den Tisch. Bedienen mussten sie sich selbst.
»Tja«, meinte Kreon und warf einen auffordernden Blick in die Runde, während er für sich und die anderen den Wein mischte. »Dann lasst uns auf Krates trinken und ihn in unserer Runde willkommen heißen!«
»Auf Krates!« rief Glaukos.
»Und auf uns!« schloss Agathon lachend.

Es wurde ein geselliger und interessanter Abend, bei dem Krates jeden einzelnen seiner anwesenden Mitschüler besser kennenlernte und schon nach wenigen Stunden hatte er das Gefühl, in die Gemeinschaft der Tarsianischen Akademiker aufgenommen zu sein. Doch ganz entgegen seiner festen Grundsätze hatte er an diesem Abend auch wieder einmal mehr getrunken als er eigentlich vertrug. Nicht, dass seine Trunkenheit unangenehm auffiel, doch schon auf dem Heimweg, den Krates ohne seine Mitstreiter nie gefunden hätte, ärgerte er sich über sich selbst. In der Akademie angekommen, verschwanden sie einer nach dem anderen in ihren Zimmern. Krates dagegen eilte auf eine der Toiletten, um sich zu übergeben und sehnte sich nach Melas Kräutertee, der ihm an solchen Abenden immer geholfen hatte.

Nach wenigen, viel zu kurzen Stunden des Schlafes musste er sich von Agathon wachrütteln lassen. »He, Krates!« rief dieser. »Willst du denn nicht aufstehen? Das Seminar bei Dionysios hat längst begonnen.«
Krates sprang aus dem Bett, sank aber gleich wieder in die Knie, weil ihm schwindelig wurde. »Verdammt!« fluchte er leise und hielt sich an der Bettkante fest.
»Nun sieh aber zu!« mahnte ihn Agathon. »Du findest uns draußen im Garten.«
Auch das noch, murmelte Krates, der sich überlegte, wie er nur ungesehen zu einem der Laufbrunnen käme, um sich zu waschen und aus seinem Äußeren etwas Ansehnlicheres zu machen als das, wonach er sich fühlte. Außerdem hatte er Hunger und ihm war schlecht, doch es half alles nichts. Er atmete einmal tief durch und ging entschlossenen Schrittes zu einem der Laufbrunnen.
»Guten Morgen, Krates«, begrüßte ihn Dionysios lächelnd, als er sich zögerlich in den Kreis der Studierenden setzte. »Ich fürchte, du kommst zu früh, mein Lieber. Der nächste Kurs beginnt erst um die Mittagszeit.«

Ein paar Studenten lachten und Krates wäre am liebsten im Erdboden versunken. Auch Agathon lachte, aber er gab ihm gleichzeitig einen aufmunternden Stoß in die Rippen. »Du bist ein Idiot, Krates, aber selbst ein Idiot hat eine Wahrnehmung und über eben diese diskutieren wir gerade.«
»Ganz recht«, bestätigte Dionysios. »Und es bleibt zu beweisen, dass die Wahrnehmung unfehlbar ist. Die Stoiker zum Beispiel setzen der Erkenntnis den Begriff der Katálepsis voraus, das heißt eine Wahrnehmung, der der Verstand zustimmen kann. Nun, in Ägypten kennen wir ein Phänomen, das von den Wüstenbewohnern als flimmernde Trugbilder bezeichnet wird. Ihr könnt euch das vorstellen wie das Spiegelbild einer Pfütze, in dem Bäume oder Berge, ja, manchmal sogar ganze Städte erscheinen. Aber dieses Spiegelbild oder was immer es sein mag, befindet sich nicht auf dem Boden, sondern am Horizont, und eben das macht die Sache so gefährlich. Denn die Dinge, die in diesen Trugbildern erscheinen, können zwar von jederman wahrgenommen werden, doch sie existieren nicht wirklich. Und wer immer sie für real hält und darauf zusteuert, wird sich unweigerlich verlaufen und in der Wüste verdursten.«

»Das heißt«, warf Kreon ein, »dass die Wahrnehmung keinesfalls unfehlbar ist.«
»So ist es«, bestätigte Dionysios schmunzelnd. »Eine Zustimmung dagegen äußert sich einerseits in Form einer Aussage, die wahr oder falsch ist. Aber sie kann andererseits auch nur auf Grund eines Eindrucks erfolgen. Und beim Eindruck sind wir wieder bei der Wahrnehmung, die, wie wir soeben festgestellt haben, ebenfalls richtig oder falsch sein kann. Die Zustimmung einer Wahrnehmung ist also in Wirklichkeit nichts anderes als die Meinung zu einer Wahrnehmung. Wenn wir uns aber auf unserem Weg zur Erkenntnis an Meinungen halten wollen, was meint ihr: Sollten wir dann nicht lieber zu den Stoikern auf die Agora gehen, wo die Meinungen gewissermaßen auf den Bäumen wachsen?«
Die Studenten brachen in schallendes Gelächter aus und Krates gelangte endgültig zu der Erkenntnis, dass er in Zukunft sehr fleißig sein musste, wollte er mit den anderen Schülern Schritt halten und Dionysios in der Weise zufrieden stellen können, wie er es sich vorgenommen hatte.

Die folgenden Tage gehörten zu den spannendsten, die Krates je erlebt hatte. Er bemühte sich, die freien Stunden zwischen seinen Seminaren und den Mahlzeiten in der Bibliothek oder in seinem Zimmer zu nutzen, um das bei Dionysios erlernte Wissen zu vertiefen. Je sicherer er dabei wurde, desto intensiver beteiligte er sich an den Seminaren und schon nach wenigen Tagen stellte er erleichtert fest, dass ihm Dionysios seinen peinlichen Auftritt offensichtlich nicht weiter übel genommen hatte. Der Geometriekurs, den er auf Agathons Empfehlung bei Aristides belegt hatte, erwies sich als überaus amüsant. Denn ganz gleich, ob es irgendwelche Winkelberechnungen waren, mittels derer man den unauffälligsten Standpunkt ermitteln konnte, um den jungen Marktfrauen über die Spiegelung einer Pfütze unter die Röcke schauen zu können, oder die Ellipse, die eine faule Tomate auf ihrem Flug durchs Theater beschreibt – Aristides hatte für nahezu jede Formel ein witziges Bild, das die Geometrie von ihrer staubigen Gelehrsamkeit abhob und überaus praktisch werden ließ. Krates musste dabei oft an Hippias denken und bedauerte fast, dass dieser das Seminar bei Aristides nicht miterleben konnte. Er hätte daran gewiss seine Freude gehabt.

In den Abendstunden, die zunehmend kühler wurden, zog er sich oft in sein Zimmer zurück, wo er sich mit einer Wolldecke über den Schultern an seinen Tisch setzte, um im schummrigen Licht der Öllampe in der Odyssee weiterzulesen, die ihm Orthygia einst geschenkt hatte. Er brauchte immer eine Weile, bis er sich an das poetische Versmaß gewöhnen konnte, doch hatte er sich erst einmal eingelesen, genoss er den gleichmäßigen Singsang der wiederkehrenden Bilder und herrlichen Beschreibungen, die so einfallsreich waren, wie sie wohl nur von einem Menschen erdacht werden können, der gezwungen ist, die Welt über andere Sinne als das Sehen wahrzunehmen. Überhaupt beschäftigte ihn Homers angebliche Blindheit und er fragte sich oft, wie wohl ein Blinder zu diesem geographischen Wissen gelangt sein mochte. Nachdem er das fünfte Buch gelesen hatte, kam ihm erstmals der Gedanke, eine Karte mit den in der Odyssee beschriebenen Orten zu zeichnen. Das Ergebnis, von dem er träumte, war ein neuer Weltatlas, der die Wirklichkeit ebenso widerspiegelte wie die Grenzen der menschlichen Wahrnehmung. Schließlich animierte ihn Agathon, seine Karte auf ein Modell zu übertragen.
»Wie stellst du dir das denn vor?« fragte Krates entgeistert. »Wir können doch nicht die Weltkugel nachbauen.«
»Und warum nicht? Wir brauchen dazu doch nur eine Holzkugel. Und die kann man sich bei jedem Schreiner machen lassen.«

* * * * * *

Der Herbst wurde merklich kühler. Die Bäume in Tarsos hatten längst ihre Blätter verloren und die Stürme brachten manchmal tagelang anhaltenden Regen, sodass die meisten Seminare in jenem beheizbaren Mittelraum stattfanden, in dem Krates einst mit Dionysios gesessen hatte. Dankbar registrierte er, dass sich Myrons Methode, ihn ganze Texte auswendig lernen zu lassen, langsam bezahlt machte. Denn er konnte den Diskussionen weit besser folgen als manch anderer, weil er sich selbst an Dinge erinnern und auf diese zurückgreifen konnte, die vor einem längeren Zeitraum geäußert wurden. Als Krates eines Tages bemerkte, dass auch Agathon ein ähnlich gutes Gedächtnis besaß, erkundigte er sich nach seiner Vorbildung. Agathon lachte nur und erklärte stolz, er habe sich das selbst beigebracht. Seine Methode war denkbar einfach: Er legte verschiedene Gegenstände auf den Boden, ließ Krates einen kurzen Moment Zeit, um sich diese einzuprägen und deckte sie daraufhin mit einem Tuch ab. Dann forderte er Krates auf, alle Gegenstände zu nennen, die sich unter dem Tuch befanden. Krates lachte ihn dafür aus und bemerkte, dass dies doch eher ein Spiel für Kinder sei.
»Das glaubst aber auch nur du«, erwiderte Agathon und winkte ihn zur Tür. »Komm mal mit. Dann werde ich dir zeigen, wie machtvoll dieses Spiel ist, wenn man es zu spielen weiß.«

Sie stellten sich vor einen der Laufbrunnen im Garten und betrachteten die vor ihnen liegende Häuserwand. »Versuch einmal dir die Anzahl dieser Mauersteine zu merken. Ich zähle derweil bis zehn. Dann musst du die Augen schließen und mir Rede und Antwort stehen.«
»Das ist doch unmöglich!«
Agathon lachte spöttisch. »Hast du nicht eben noch behauptet, das sei etwas für Kinder? Na also, dann solltest du es doch allemal können!«
Krates schnaubte verächtlich. »Kannst du es denn?«
»Na klar!« Agathon wandte sich von der Mauer ab und forderte gelassen: »Stell mir irgendeine Frage!«

Krates grinste und stemmte die Hände in die Taille. »Na gut. Die siebte der dreiundzwanzig Steinreihen von oben gezählt. Wie viele Steine liegen dort nebeneinander?«
Agathon schloss die Augen und konzentrierte sich kurz, bevor er antwortete: »Siebenundfünfzig.«
Krates war noch mit Zählen beschäftigt. »… fünfundfünzig, sechsundfünfzig, siebenund …, verdammt, woher wusstest du das?«
»Stell mir eine andere Frage.«
»Na schön. In der Hauswand hinter deinem Rücken befindet sich ein ziemlich auffälliger Stein, der größer ist als alle anderen. In welcher Reihe liegt er?«
»Er überspannt die vierte und fünfte Steinreihe von unten.«
Krates schüttelte nur ungläubig den Kopf. »Dieser Quader hat übrigens ein Steinmetzzeichen. Kannst du mir sagen, was darauf abgebildet ist?«

Agathon runzelte die Stirn. »Du schwindelst«, protestierte er. »Da ist kein Steinmetzzeichen. Einige andere Quader in der Hauswand haben welche, aber auf dem großen Stein gibt es keins.«
Krates hatte genug gehört und schaute seinen Freund bewundernd an. »Wie lange hast du gebraucht, um das zu können?«
»Lange«, gab Agathon zu. »Weißt du, ich übe mich darin schon seit meiner Kindheit. Aber mit ein bisschen Training könntest du schon bald zu ganz ähnlichen Erfolgen kommen. Und überleg mal, wie herrlich das ist: Du wirst nie wieder nach etwas suchen müssen. Du weißt immer, wo sich welche Schriften in der Bibliothek befinden und kannst dir Dinge merken, die kaum einer überhaupt bemerkt.«
Krates war begeistert und fest entschlossen, diese Kunst zu erlernen, und so saßen sie fortan jeden Abend zusammen und trainierten ihr Gedächtnis. Bereits nach wenigen Wochen konnte sich Krates an mehr als fünfzig Gegenstände erinnern und bemerkte, dass ihm diese Fähigkeit auch in den Seminaren und bei seiner Arbeit in der Bibliothek von Nutzen war. Der Herbst war mittlerweile in den Winter übergegangen. Aus den Bergen wehte ein kräftiger Wind, der immer öfter Schnee mit sich brachte und die Stadt in eine weiße Landschaft verwandelte. Die Akademie wirkte jetzt verlassener denn je. Sämtliche Fensterläden waren geschlossen und jeder vermied es, sich länger als notwendig im Freien aufzuhalten.

Eines Abends klopfte Agathon an Krates’ Tür und setzte sich verfroren auf die Bettkante. »Weißt du eigentlich«, fragte er, »wem dieser herrliche syrische Rappen gehört, der da in unserem Pferdestall steht?«
»Du meinst den Braunen«, erwiderte Krates, »den mit dem schwarzen Punkt auf der Stirn?«
»Genau den meine ich.«
»Er heißt Pluto und wir sind gemeinsam aus Mallos gekommen.«
»Ja, ist denn das die Möglichkeit!« rief Agathon begeistert. »Da haben wir zwei wunderbare Pferde im Stall und kommen bis heute nicht auf die Idee, sie zu nutzen. Morgen Nachmittag reiten wir aus.«
»Bei der Witterung? Weißt du, wie kalt es da draußen ist?«
»Wir können uns ja Decken mitnehmen, aber ausreiten sollten wir auf jeden Fall. Es gibt da nämlich einen Ort, den ich dir gerne zeigen würde.«
»Was für einen Ort?«
»Lass dich überraschen«, lachte Agathon.

Zum Abendessen, bei dem es einen würzigen Bohnenbrei mit Lauch und Brot gab, erkundigte sich Agathon, wie Krates eigentlich sein Studium finanziere.
»Nun, als ich ankam, hatte ich zwei Pferde. Von dem Verkaufserlös des einen bezahle ich all das hier. Doch spätestens im nächsten Semester wird mir das Geld ausgehen.«
»Oh ja«, nickte Agathon, »das kommt mir sehr bekannt vor. Eines Tages neigten sich auch meine Reserven dem Ende, was sich ziemlich schnell und ausgesprochen unvorteilhaft auf mein Studium auswirkte.«
»Und wie hast du das Problem gelöst?«
»Ganz einfach: Ich fing an Bilder zu verkaufen.«
»Bilder?« fragte Krates ungläubig.
»Ich weiß, das klingt ziemlich profan. Aber was soll’s? Ich kaufte mir Holztafeln und Kohle, bin in die Berge geritten und habe Landschaftsbilder gezeichnet. Als ich zwanzig Exemplare fertig hatte, von denen ehrlich gesagt nur sieben etwas getaugt haben, bin ich auf den Markt gegangen und habe sie verkauft.«
Krates musste lachen. »Und das hat funktioniert?«

»Oh«, antwortete Agathon geschäftig, »das funktioniert noch immer. Und du glaubst gar nicht, was die Leute dafür ausgeben. Ich meine, gut, einige meiner Bilder sind wirklich schön, aber das meiste mache ich nur, weil ich das Geld brauche. Mit der Zeit merkte ich, dass Landschaften nicht jedermanns Sache sind. Also übte ich mich auch in der Kunst des Portraitierens.«
Als sie ihr Abendessen beendet hatten, führte ihn Agathon in sein Zimmer und holte aus einer Holzkiste unzählige Täfelchen hervor, auf denen Landschaften, Häuser, Tempel und die Portraits unterschiedlichster Charaktere gezeichnet waren. Krates bestaunte die Bilder, die zweifellos von der Hand eines Meisters stammten und schluckte. »Ich wünschte, ich könnte auch so talentiert zeichnen wie du.«
Agathon lächelte und verstaute die Täfelchen wieder in seiner Kiste. »Nun, Krates, vielleicht solltest du einmal darüber nachdenken, worin deine Stärken liegen. Denn je eher du das weißt, desto schneller kannst du sie zu versilbern, wenn es eines Tages darauf ankommt.«

Krates nickte und überlegte, doch ihm wollte auf Anhieb nichts einfallen, was einer solchen Begabung gleichkäme.
»Lass dir damit ruhig Zeit«, beruhigte ihn Agathon. »Manches fällt einem auch erst später ein. Aber denk weiter darüber nach. Manch einer, der hier studiert hat, verschwand eines Tages von der Bildfläche, weil er sich das Studium nicht mehr leisten konnte und sich nie mit der Frage auseinandergesetzt hat, wie er zu Geld kommen kann.«
Der nächste Tag begann mit Sonnenschein. Es war zwar furchtbar kalt und der Garten lag knöcheltief im Schnee versunken, doch die Luft war klar und der Himmel wolkenlos. Dionysios hetzte seine Schüler durch die traditionsreiche Geschichte der Akademie. Nachdem Krates auch das Seminar bei Kallisthenes überstanden hatte, holte er aus seinem Zimmer eine warme Decke und begab sich mit Agathon in den Stall, um die Pferde zu satteln. Von der Akademie ritten sie durch das schwer bewachte Stadttor und folgten einem kleinen, von verschneiter Macchia gesäumten Weg in die Berge. Warm eingepackt genoss Krates den Ritt durch die Schneelandschaft und wartete gespannt auf den Ort, an den ihn Agathon wohl führen würde.

Sie waren schon eine gute Stunde unterwegs, als sie schließlich auf eine kleine, von verschneiten Bäumen umgebene Hochebene gelangten. In ihrer Mitte befand sich ein winziger See, aus dem gewaltige Dampfwolken aufstiegen.
Agathon saß ab und band sein Pferd an einen der Bäume.
»Nun mach schon, Krates, steig endlich ab. In spätestens zwei Stunden müssen wir uns wieder auf den Heimweg machen.«
Krates war von diesem Ort wie verzaubert. Während er Pluto an den Baum neben Agathons Hengst band, schaute er fasziniert in die verschneite Ebene, an deren Horizont er das Meer schimmern sah. Tarsos lag in einem Dunstschleier rechts unter ihnen und erstmals sah er die Stadt in ihrer vollen Größe.
»He!« rief ihn Agathon abermals.
Krates blickte sich um, konnte ihn aber nicht entdecken. Dann sah er seine Kleider, die auf der Wiese lagen, die unter dem ufernahen Schnee zum Vorschein kam.
»Bist du etwa im Wasser?«

»Aber sicher«, antwortete Agathon vergnügt. »Komm, mein Alter, zieh dich aus und steig zu mir in die Wanne. Du wirst sehen, es ist herrlich!«
Widerstrebend ging Krates zum Ufer und hielt seine Hand ins Wasser. Als er sich davon überzeugt hatte, dass der See wirklich angenehm warm war, konnte er es kaum erwarten. Hastig streifte er sich die Kleider vom Leib und watete in den warmen Dunst. Er stieß sich vom Untergrund ab, schwamm in den weißen Nebelschleier und fühlte sich dabei unangenehm an den elften Gesang der Odyssee erinnert, in dem Odysseus durch den Nebel der Unterwelt steigt, um auf den Seher Teiresias zu treffen.
»Agathon!« rief er verzweifelt. »Wo steckst du bloß?«
Als er das Lachen seines Freundes hörte, konnte er ihn auch schon erkennen.
»Meine Güte, Krates. Du benimmst dich aber auch wie ein kleiner Junge. Sag selbst: Ist das hier nicht ein prächtiger Ort?«
Krates schluckte und gab ihm Recht. Verglichen mit Agathon war er ein Schmächtling, untrainiert und bleich, mit einem so geringen Bartwuchs, dass er sich nur alle zehn Tage rasieren musste. Nackte athletische Körper hatten ihm schon immer das Empfinden gegeben in seinem eigenen Körper nicht zu Hause zu sein. Agathon schmunzelte mitfühlend.
»Jetzt entspann dich mal. Du bist eben nicht der sportliche Typ. Na und? Schließlich trainieren wir in einer Akademie und nicht in einem Gymnasion.«

Das warme Wasser war ein Hochgenuss und sie tauchten mehrmals unter. Die Felsstufe, auf der sie saßen, lag ungefähr fünf Handbreiten unter der Wasseroberfläche, so dass nur ihre Köpfe und Hälse aus dem Wasser herausragten. Entspannt wärmten sie ihre Körper und schauten durch den Dunst in die klare Wintersonne, die sich hier und dort in kleinen Regenbogen brach.
»Wie bist du auf diesen Ort gestoßen?« fragte Krates.
»Purer Zufall. Es war im Frühling letzten Jahres: Ich war mit Phoibos unterwegs, so heißt mein Schwarzer, und wir ritten dort unten irgendwo herum, als ich plötzlich diesen Nebel hier sah. Ich habe übrigens Kallias danach gefragt. Und stell dir vor: Er hatte keine Ahnung. Er unterrichtet Geographie an einer der bedeutendsten Akademien und kennt sich noch nicht einmal vor seiner eigenen Haustür aus. Aber das war ja auch nicht anders zu erwarten.«
»Was willst du damit sagen?«
»Na ja«, entgegnete Agathon, »unsere Akademie ist wirklich ein angesehener Ort und jeder, der bei uns unterrichtet, hat es in den Wissenschaften weit gebracht. Aber unsere Akademie ist doch eher ein Ort des Wissens und des Schaffens als einer, der Wissen schafft. Verstehst du?«
»Nein.«

»Schau«, begann Agathon von neuem, »nimm das Museion in Alexandria, die Stoa von Athen oder meinetwegen auch die Bibliothek der Könige in Pergamon; an all diesen Orten wird geforscht und geschrieben. Permanent entsteht dort etwas Neues, das unsere Wissenschaften vorantreibt, unsere Bibliotheken füllt und die Diskussionen in Gang hält. Tarsos dagegen ist eine Sackgasse. Kallisthenes führt unsere Akademie seit siebzehn Jahren, aber schon ein zweitrangiger Grammatiker aus Alexandria wie zum Beispiel Dionysios vermag ihn locker in den Schatten zu stellen. Hinzu kommt, dass die hiesige Bibliothek zu klein ist, um ernsthaft forschen zu können; der Austausch mit anderen Gelehrten von außerhalb ist gleich Null und die Akademie ist, überspitzt ausgedrückt, nichts weiter als eine Privatschule für reiche Schnösel.«
Krates lachte. »Das hört sich ja ziemlich vernichtend an.«

»Ja und nein«, gab Agathon zu. »Vernichtend im ursprünglichen Sinne wird die Sache erst dann, wenn man sich damit abfindet. Ich hab ja keine Ahnung, was beispielsweise Dionysios dazu getrieben hat, hierher zu kommen. Vielleicht hatte er Fernweh und wollte nach seiner Lehrtätigkeit in Alexandria mal das Revier wechseln, was weiß ich? Aber ich kann dir eines garantieren: Der bleibt hier nicht ewig. Ab und zu redet er ja selbst schon davon, nach Rhodos gehen zu wollen. Bist du übrigens mal da gewesen?«
Krates schüttelte den Kopf.
»Ich auch nicht. Aber Philopatros hat mir erzählt, dass es in Rhodos sehr schön sein soll; tolles Klima, wunderbare Landschaften und vermögende und hochgebildete Gesellschaftskreise, in denen man sich mit einer eigenen Philosophenschule erfolgreich niederlassen kann. Und das ist eigentlich auch schon alles, was ich dir damit sagen will. Unsere Ausbildung hier ist vermutlich die beste, die du in der östlichen Welt erhalten kannst. Aber mach nicht den Fehler, hier hängen zu bleiben, Krates. Denk immer an den Philosophen Bias und sein ›Erkenne dich selbst!‹ Solange du weißt, wer du bist und was du willst, brauchst du nicht in diesem Provinznest zu verschimmeln. Du kannst nach Alexandria oder nach Athen gehen, nach Rhodos oder auch nach Pergamon, zumindest an irgendeinen Ort, der dich zukünftig mehr fordern wird als Tarsos. Und vielleicht kannst du dort ja sogar deine eigene Schule gründen.«

»Klingt gut. Und was wird aus dir?«
»Keine Ahnung. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob ich überhaupt Lust habe, als Philosoph weiterzumachen. Vielleicht bleibe ich bei meinen Bildern. Vielleicht gehe ich auch nach Alexandria und heirate dort eine schöne Ägypterin. Wer weiß? Hast du übrigens mal Epikur gelesen?«
»Nur auszugsweise«, log Krates.
»Dann solltest du dich mit ihm beschäftigen. Ich glaube, seine Form der Philosophie würde mir noch Freude machen, zumal Epikur einen Erkenntnisprozess beschreibt, der vor allem spaßorientiert ist, ohne dabei den Spaß wichtiger zu nehmen als die Ernsthaftigkeit des gesellschaftlichen Umgangs. Wenn ich mir einen idealen Freund und Lehrer vorstellen sollte, dann wäre es Epikur. Dionysios kommt diesem Bild manchmal sehr nahe, aber uns verbindet leider nichts, was zu einer Freundschaft führen könnte.«
Krates betrachtete seine vom Wasser aufgeweichten Hände. Hinter den Nebeln hörten sie die Pferde wiehern und Agathon erhob sich von seinem Platz, um ans gegenüberliegende Ufer zu schwimmen.
»Komm«, rief er Krates zu, »es ist Zeit, zurückzukehren.«

Der kurze Moment des Abtrocknens rief ihnen schlagartig die Jahreszeit in Erinnerung, doch als sie fertig angezogen und in Decken gehüllt auf ihren Pferden saßen, fühlten sie sich angenehm durchwärmt. Die Akademie lag schon im Dunkeln, als sie die Tiere in den Stall brachten und mit frischem Heu versorgten. Das lange Dampfbad und der anschließende Ritt aus den Bergen hatte sie schläfrig gemacht und so sanken sie glücklich und erschöpft ins Bett.

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