Der Herbst nahte und über den Burgberg von Pergamon wehten die ersten Stürme, die nicht nur den Staub durch die Straßen wirbelten, sondern auch die Kälte des Nordens mit sich brachten. Krates war spät dran; Apollodoros lag mit Fieber im Bett und auch Telephos fühlte sich kränklich, so dass Livia alle Hände voll zu tun hatte und Krates ihr unter die Arme greifen musste. Er eilte aus dem Haus und schlang sich fröstelnd seinen Schal um den Hals. Auf dem Weg zur Akropolis schlug ihm der kalte Regen entgegen und er freute sich auf die wohlige Wärme, die ihn in den Sälen der Bibliothek umgeben würde. Voller Stolz dachte er an die Räumlichkeiten der neuen Stoa, die kurz nach seiner Rückkehr fertig geworden und längst in Betrieb genommen waren. Erstaunlicherweise ließen weder die Gelehrten, die er während seiner Reise eingeladen hatte noch die Schüler lange auf sich warten.
Die Philosophen Arrianos und Isokrates, die beiden Grammatiker Alexandros und Drakon, der Historiker Archidamos und der Mathematiker Hyperion, sie alle waren mittlerweile im neuen Hauptgebäude hinter dem Museion untergekommen. Zenodotos wohnte nach wie vor bei Krates und Artemon besaß ja sein eigenes Haus in der Philetaireia. Aber auch unter den Wissbegierigen hatte sich die Gründung der Stoa so schnell herumgesprochen, dass seit seiner Rückkehr schon über fünfzig Schüler eingetroffen waren, die in Pergamon studierten und gegen ein entsprechendes Entgelt in der neuen Halle oberhalb der Altarterrasse wohnten.
Halbwegs durchnässt schritt Krates durch das Burgtor und begrüßte die frierenden Soldaten. Er eilte durch das Athenaheiligtum in die Bibliothek und sah mit einiger Beschämung, dass sich seine Kollegen schon um den großen Konferenztisch im Hauptsaal versammelt hatten.
»Entschuldigt meine Verspätung«, bat er sie und klopfte sich die Nässe aus dem Mantel. »Mein großer Sohn ist krank und …«
»Du musst dich nicht entschuldigen«, fiel ihm Archidamos ins Wort. »Wir alle haben es dir zu verdanken, wenn wir heute hier sitzen und es macht wohl auch keinem etwas aus, wenn er ein bisschen warten muss.«
»Außerdem«, scherzte Isagoras mit einer ausholenden Geste, »haben wir ja genügend Stoff zum Lesen.«
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Anschließend lösten sie die Versammlung auf und machten sich an ihre Arbeit. Krates zog sich einen Stuhl an den Ofen, der ganz in der Nähe seines Schreibtisches stand und beugte sich vor, um die wohlige Wärme an seinen Körper zu lassen. Immer noch fröstelnd rieb er sich die Hände und überlegte, was er heute Nachmittag mit seinen Schülern besprechen wollte.
Das Hauptthema seines Seminars war die stoische Philosophie, aber zurzeit waren sie noch immer damit beschäftigt diese zu definieren und von den Methoden des akademischen Erkenntnisprozesses abzugrenzen. Krates erinnerte sich an eine Textstelle bei Aristoteles, in der dieser den durchaus ehrbaren Standpunkt vertrat, man solle allem Lebenden mit Respekt begegnen sowie mit der Gewissheit, dass es etwas Wunderbares, Natürliches und Schönes besitze. Krates nickte nachdenklich vor sich hin und beschloss mit seinen Schülern den entsprechenden Absatz zu lesen, um anschließend die daraus resultierenden Möglichkeiten der Anomalie zu diskutieren. Zufrieden holte er sich seine Wachstafel und machte sich ein paar Notizen. Als er sich schließlich auf die Suche nach der entsprechenden Textpassage machte, klopfte es an der Tür und ein junger Mann trat ein.
»Guten Tag«, sagte er und machte dabei eine höfliche Verbeugung, »ich suche den Philosophen Krates aus Mallos.«
»Das bin ich«, erwiderte Krates und legte seine Wachstafeln beiseite.
»Ich freue mich, dich kennenzulernen«, erwiderte der andere. »Mein Name ist Panaitios, der Sohn des Nikagoras von Rhodos und ich habe einst bei Diogenes von Seleukia in Athen studiert.«
Krates brach in freudiges Gelächter aus. »Wahrlich, du musst sein Schüler gewesen sein, wenn du ihn nicht wie die Anderen aus Babylon kommen lässt. Aber auch ich freue mich dich kennenzulernen, denn er hat mir viel von dir erzählt.«
»Du kennst Diogenes?« rief Panaitios überrascht.
»Wir sind uns in Athen begegnet, als ich vor vierzehn Jahren eine Gesandtschaft nach Rom begleitete. Aber ehrlich gesagt, hat mich seine Bekanntschaft ein wenig enttäuscht, denn er schien mir schon ziemlich alt und frustriert.«
Panaitios hing förmlich an Krates’ Lippen und hoffte auf eine Fortsetzung, doch es kam keine. »Alt und frustriert?« fragte er daher.
»Ja, es schien so, als hätte Diogenes nicht mehr die Kraft, gegen die schädlichen Einflüsse seiner Umgebung anzugehen. Er wirkte irgendwie gebrochen.«
Panaitios nickte traurig. »Ich fürchte, du hast Recht. Die Anfänge dessen waren schon damals zu spüren. Aber in gewisser Weise hat er auch selbst schuld. Denn so unkonventionell die stoischen Grundwerte im Gegensatz zu denen der Akademie auch sein mögen, für meine Begriffe sind unsere Denkmuster noch immer viel zu konservativ, veraltet und festgefahren. Ich hatte Diogenes des Öfteren vorgeschlagen, diese zu erneuern, aber er hat das grundsätzlich abgelehnt.«
Krates stutzte. »Kann es sein, dass du kürzlich in Priene warst?«
Panaitios starrte ihn verwundert an. »Woher weißt du das?«
»Ganz einfach«, lächelte Krates, »weil mir mein Kollege Drakon davon erzählt hat.«
»Warst du in Priene oder war Drakon hier?«
»Beides. Ich war in Priene. Aber Drakon lehrt auch an unserer Stoa.«
»Phantastisch!« rief Panaitios begeistert. »Womit ich übrigens auch zum Grund meines Besuches kommen möchte: Ich habe von der Stoa gehört, die du hier leitest und ich würde gerne bei dir lernen.«
Krates schenkte ihm ein freundliches Lächeln. »Du bist uns willkommen, Panaitios. Wenn du möchtest, kannst du dich gleich nachher mit in mein Seminar setzen. Es wird dabei zwar nur um die Grundzüge der Stoa gehen, die dir wohl hinlänglich bekannt sein dürften, aber so lernst du immerhin schon mal die Räumlichkeiten und die übrigen Schüler kennen.«
»Ein verlockendes Angebot«, bedankte sich der junge Philosoph und versprach am Nachmittag wieder vorbeizukommen.
Gegen Mittag erreichte die Bibliothek eine große Papyruslieferung, die von Leonidas und seinen Kollegen entgegengenommen wurde. Krates grinste, als er das teure Material sah, das von seinen Bibliothekaren in Kisten verpackt und fachgerecht in den Seitenräumen verstaut wurde. Es hatte tatsächlich nicht lange gedauert, bis die Ägypter ihren Exportstopp aufhoben und die begehrten Papyrusblätter wieder in alle Welt verkauften. Doch ob der Grund dafür in dem von ihm kostenlos veröffentlichten Rezept der ›Pergamenischen Häute‹ lag, das die griechischen Bibliotheken nun wirklich von Alexandria unabhängig gemacht hatte oder in der Gründung der pergamenischen Stoa, vermochte er nicht zu sagen.
Als er pünktlich zur vierten Nachmittagsstunde den Seminarraum betrat, sah er mit freudigem Erstaunen, dass sich Isagoras um neues Feuerholz gekümmert hatte, denn im Kamin an der hinteren Wand prasselte ein großes Feuer, das den Raum mit einer angenehmen Wärme versorgte. Panaitios saß auf einem der Kissen, die zu einer großen Runde drapiert waren und unterhielt sich angeregt mit dem Schüler Hermias aus Nyssa. Krates legte seine Wachstafeln und die Schriftrolle mit dem Aristotelesaufsatz vor sich auf den Boden und setzte sich zu seinen Studenten.
Nach der Lektüre und der anschließenden Diskussion um die Denkmuster der Stoa, zu der auch Panaitios seinen Teil beitragen konnte, erklärte Krates das Seminar für beendet und nahm seinen neuen Schüler bei Seite. »Hast du schon eine Unterkunft gefunden?«
»Ja«, erwiderte Panaitios beiläufig, »ich habe mir eines der Häuser am Fuße des Burgberges gekauft. Ich glaube, gegenüber befindet sich ein Heiligtum der Demeter, aber das stört nicht weiter.«
»Du hast dir ein ganzes Haus gekauft?« fragte Krates ungläubig.
»Natürlich, warum denn nicht? Ich hatte das Geld dabei und der Vorbesitzer hat mir einen fairen Preis gemacht. Weißt du, Krates, ich mag nicht mehr in den Studentenbuden hocken. In Athen war das ganz lustig, aber die Zeiten sind vorbei. Komm mich doch mal besuchen.«
»Das mache ich bestimmt«, versprach Krates immer noch leicht irritiert und schloss hinter ihm den Seminarraum ab.
* * * * * * * * *
Die Monate verstrichen, während der Regen immer öfter in Schnee und Graupel überging, bis die Stadt zum ersten Mal seit Jahren wieder in tiefem Schnee versank. Krates’ Söhne genossen die weiße Pracht und lieferten sich mit Zenodotos und den Schülern ihres Vaters manche Schneeballschlacht. Die Stoa zählte mittlerweile zwölf Gelehrte und knapp hundert Schüler, unter denen vor allem Panaitios durch seine schnelle Auffassungsgabe und guten Diskussionsbeiträge herausstach und daher schon bald zu Krates’ Musterschülern zählte.
* * * * * * * * *
»Wann müssen wir denn aufbrechen?« fragte Livia nach dem Essen, während sich Krates genüsslich in die Kissen lehnte und gähnte.
»Später. Es bleibt noch genügend Zeit, um uns etwas hinzulegen.«
»Dann habe ich ja heute das Haus für mich «, sagte Zenodotos.
»Sieht ganz so aus«, lachte Livia. »Du kannst dir am Abend die Bohnen warm machen. Brot liegt im Schrank und wo der Wein steht, weißt du ja selbst.«
Zenodotos bedankte sich für ihre Fürsorge und stand auf.
Krates streckte sich und dachte an den heutigen Abend mit Hippias, zu dem er von ihm vor über einem Monat eingeladen worden war. Die Techniten weihten ihr neu gestaltetes Vereinshaus ein und Hippias, der ja selbst einer ihrer Förderer war, hatte Krates eingeladen ihn dorthin zu begleiten. Da der Abend spät werden und Krates höchstwahrscheinlich bei Hippias übernachten würde, hatte Livia vorgeschlagen, ihn mit den Kindern zu begleiten und sich derweil mit Stratonike zu amüsieren. Es war ein Segen, dass sich die beiden Frauen so gut verstanden, denn dadurch waren auch ihre Kinder miteinander befreundet und ließen ihren Eltern allen Raum, den sie für ihre Freundschaft brauchten.
»Krates!« lachte Livia aus dem Türrahmen.
»Ich komme«, entschuldigte er sich und stand auf, um seiner Frau ins Schlafzimmer zu folgen, wo sie sich fröstelnd in die warmen Wolldecken hüllten, die er ihr von seiner Reise aus Halikarnassos mitgebracht hatte.
»Über was denkst du schon wieder nach?« fragte sie müde.
»Ich dachte an Hippias und seine Techniten, die mich gerne …«
»Oh nein!« fiel sie ihm protestierend ins Wort. »Findest du nicht, dass du schon genügend Aufgaben hast?«
»Natürlich«, gähnte Krates. »Mich reizen auch nicht die Trinkgelage, sondern eher die Finanzierung der Theateraufführungen und die Unterstützung der Künste und Künstler. Ich finde, das ist eine gute Sache, für die ich mich gerne einsetzen würde.«
Als sie am Nachmittag mit ihren Söhnen durch die verschneite Philetaireia stapften und auf den vereisten Stufen der engen Treppengassen ein paar Mal fast ausgerutscht wären, bot sich ihnen ein überwältigender Sonnenuntergang. Sie folgten der talwärts führenden Hauptstraße und passierten das rechts unter ihnen liegende Demeterheiligtum sowie das festlich geschmückte Vereinshaus der Techniten. Neben der Straße erhoben sich die verfallenen Reste der alten Stadtmauer, die sie bis zum Gymnasion begleitete, in dem Apollodoros und Telephos fast täglich trainierten. Hinter dem Gymnasiontor bogen sie nach rechts in die Unterstadt, umrundeten den dreistöckigen Gymnasionkomplex und gelangten schließlich auf den kleinen Vorplatz des unteren Marktes.
Direkt neben den Markthallen lag Hippias’ Haus und Krates staunte wieder einmal über den offen zur Schau gestellten Reichtum seines Freundes. Nachdem die große Wasserleitung fertig geworden war, hatte sich Hippias mal hier, mal dort als Ingenieur verdingt. Doch seit dem militärischen Wettrüsten mit König Prusias konstruierte er für die Stadt neue Katapulte, mit denen sich nicht nur Steinkugeln und Brandsätze schleudern, sondern ganz offensichtlich auch horrende Geldsummen verdienen ließen. So hatte er nach und nach die angrenzenden Grundstücke aufgekauft und auf diesen ein pompöses Peristylhaus errichten lassen, in dessen zwölf Zimmern er nun mit Stratonike und ihren beiden Kindern sowie sechs Hausangestellten lebte.
Apollodoros und Telephos waren schon vorgelaufen und klopften nun an das große Haustor.
»Hallo, ihr beiden«, begrüßte sie Stratonike freudig. »Wo habt ihr denn eure Eltern gelassen?«
»Ach, die trödeln schon wieder«, erwiderte Apollodoros und zeigte mit dem Daumen hinter sich. »Sind Archimedes und Kallimachos auch da?«
»Aber natürlich, mein Junge. Und sie fragen schon seit Stunden nach euch! Hallo Livia, grüß dich, Krates. Wie schön, dass ihr gekommen seid.«
Sie umarmten sich herzlich und folgten Stratonike durch das kalte Nebengebäude in den Hof, der allein schon so groß war, dass Krates’ Haus in ihn mehr als einmal hineingepasst hätte.
»Krates, mein Lieber«, rief Hippias fröhlich, der soeben in den Hof trat. Er führte seine Gäste in den geheizten Hauptraum, der mit geschmackvollen Möbeln und weichen, kunstvoll verzierten Kissen und Teppichen ausgestattet war. Eine Reihe von Öllampen tauchte die bemalten Wände und die geharzten Deckenbalken in ein warmes Licht und verlieh dem Ganzen etwas so Gemütliches, dass man sich hier sofort zuhause fühlte.
»Ich staune immer wieder über den guten Geschmack deiner Frau«, sagte Krates bewundernd.
Stratonike bedankte sich mit einer angedeuteten Verbeugung. Seit seiner Versöhnung mit Hippias und ihrer beginnenden Freundschaft mit Livia begegnete sie ihm sehr viel natürlicher und warmherziger, als er es jemals für möglich gehalten hätte.
»Dann seid herzlich willkommen«, sagte sie und hob ihre Weinschale.
»Na gut«, lachte Hippias und hob ebenfalls seine Trinkschale. »Stoßen wir auf unsere Freundschaft an, auf unsere Familien und auf Pergamon!«
Gegen Abend, als die ersten Sterne den klaren Nachthimmel eroberten und es klirrend kalt wurde, zeigte Stratonike ihren Gästen das im Obergeschoss liegende Zimmer, in dem sie übernachten konnten. Die Hausdiener hatten ihnen ein großes Bett in den Raum gestellt und einen Ofen angeheizt, der für eine angenehme Wärme sorgte.
»Hier«, sagte Stratonike und überreichte Krates einen Haustürschlüssel. »Hippias bleibt für gewöhnlich bis zum Ende dieser Veranstaltungen. Aber vielleicht zieht es dich ja schon vorher zu deiner Frau.«
Livia lachte. »Da mache ich mir zwar keine allzu großen Hoffnungen, aber danke für deine Fürsorge.«
»Willst du dich etwa beschweren?« flüsterte Krates mit gespielter Kränkung, nachdem sich Stratonike zurückgezogen hatte.
Livia sah ihm tief in die Augen und musste schmunzeln. »Ich fürchte, dazu fehlt mir die Grundlage, auch wenn ich von dir immer noch nicht genug kriegen kann.«
Krates umarmte sie und drückte ihr einen zarten Kuss auf die Stirn. »Ich muss jetzt wieder runter.«
»Dann habt einen schönen Abend. Und mach dir wegen des Schlüssels keine Sorgen: Er ist lieb gemeint, aber du musst ihn ja nicht benutzen.«
»Danke«, lächelte Krates und ging zurück in den Hof, wo ihn Hippias bereits erwartete.
Als sie das Vereinshaus betraten, wurden sie von einer Gruppe rotgewandeter Männer begrüßt, die gewundene Kränze aus Ölzweigen in den Haaren trugen und offenbar schon vom Wein erheitert waren. Ein aromatischer Harzgeruch schlug ihnen entgegen, als sie vom Eingang in die Haupthalle schritten und Krates sah eine Reihe kleiner Gefäße, in denen getrocknete Harzklümpchen verbrannt wurden. Während ihn Hippias durch die Räumlichkeiten führte, fühlte sich Krates stark an die Patriziervillen erinnert, die er während seines Aufenthaltes in Rom kennengelernt hatte: Großzügig geschnittene Räume mit weiten Fluren, bunten Wand- und Deckengemälden und großen Innenhöfen. Sie schlenderten durch die große Halle des Peristyls zur Rückseite des Gebäudes und blickten aus einem der Fenster über die Dächer der Philetaireia. Rechts von ihnen lag das Demeterheiligtum, linker Hand das Gymnasion und unter ihnen die Straßen und Häuser der Unterstadt, aus denen nur vereinzelt die Lichter von Fackeln und Öllampen schimmerten.
»Beim Uranos«, staunte Krates, als er sich aus dem Fenster lehnte und nach unten schaute.
Obwohl sie sich immer noch auf der gleichen Höhe befanden wie der Eingang des Vereinshauses, lagen die Erdgeschossräume auf der Rückseite des Gebäudes etwa fünfzig Fuß über dem Boden.
Hippias klopfte seinem Freund auf die Schulter. »Ja, mein Freund«, prahlte er, »um so etwas zu bauen, braucht man Leute wie mich.«
Krates konnte nicht anders als spöttisch zu lachen. »Soweit ich weiß, war dieses Gebäude schon im Bau, als wir damals in Pergamon ankamen. Aber warum haben sich deine Techniten denn keine flachere Stelle ausgesucht? Ich meine, so eine Bauweise ist doch sicherlich wahnsinnig kompliziert.«
»Oh ja, das ist sie. Ich glaube, es war damals das letzte freie Grundstück in der Philetaireia. Und bevor sie in die Unterstadt hätten ziehen müssen, haben sie sich eben für diesen Ort entschieden.«
»Sehr beeindruckend«, resümierte Krates und zog sich den Schal enger um den Hals. »Schade nur, dass es hier so kalt ist.«
»Im Sommer ist es natürlich wesentlich angenehmer, aber wir haben schließlich Winter. Dafür ist der Hauptraum gut geheizt, komm.«
Hippias führte ihn zu einem der Eckräume im Nordwesten des Gebäudes, der mit einem themenreichen Fußbodenmosaik und reicher Marmorverkleidung versehen war. Auch hier bildeten reiche Stuckornamente den Abschluss zur Decke, doch das beeindruckendste dieses Bankettsaals war die Kultnische mit der marmornen Statue des Weingottes Dionysos. Sie legten sich auf zwei freie Tischliegen nahe den Öfen und begannen ein angeregtes Gespräch mit ihren Nachbarn.
Als der dumpfe Ton eines Hornes durch die Räume hallte, fanden sich die rotgewandeten Männer nach und nach in dem beheizten Bankettsaal ein. Der Vereinsvorsteher hielt eine feierliche Rede auf die Erneuerung des Vereinshauses und rühmte die Geschichte der Techniten. Dann wurde Wein ausgeschenkt und eine heilige Hymne auf Dionysos gesungen. Die Techniten brachten ein Trankopfer, in dem sie ihre Weinschalen kreisen und einen Teil des Weines überschwappen ließen und legten sich auf die Tischliegen.
»Der Himmel regnet«, begann einer der Männer zu singen und zitierte damit ein altes Lied des Alkaios, »und Zeus schickt uns Sturm herab. Zu Eis erstarrt ist der Flüsse Lauf …«
Krates warf Hippias einen belustigten Blick zu, denn der Sänger war offensichtlich schon so betrunken, dass er nur wenige Töne richtig traf
»Vertreib die Kälte«, holte Hippias zum Gegenschlag aus, »schüre das Feuer und geize nicht, wenn du heute den Trunk mir mischest von süßem Wein.«
»In den Nacken, Knabe«, setzte sein Nachbar die Strophe fort, »lege mir ein weiches Kissen …«
Krates rang sich ein gequältes Lächeln ab, denn der Abend hatte ja gerade erst begonnen. Dabei waren die falschen Töne der betrunkenen Sänger auch gar nicht so störend wie die joviale Art, mit der sich die Männer selbst beweihräucherten, indem sie hingebungsvoll den Liedern und Zitaten der alten Dichter und Denker lauschten und diese mit ihren obszönen Bemerkungen und Scherzen verdarben.
Überdies schien auch kein Ende in Sicht. Eine ganze Weile noch wartete Krates auf den nächsten Programmpunkt oder wenigstens eine Pause, in der man sich besinnen und gepflegt miteinander unterhalten konnte, doch die Versammlung artete in ein hemmungsloses Besäufnis aus, das ihm bald gründlich auf die Nerven ging. Hippias schien sich in dieser Gesellschaft durch und durch wohl zu fühlen, jedenfalls trank und lachte er, beteiligte sich mit seinen mehr oder minder geistreichen Bemerkungen und klopfte Krates immer öfter auf die Schultern. Krates dagegen suchte krampfhaft nach einem triftigen Grund, diese Veranstaltung endlich verlassen zu können, ohne den Unmut seiner Gastgeber auf sich zu ziehen. Er trank seinen Wein aus, tat so als hätte er sich dabei verschluckt und begann laut zu husten. Er hustete so lange, bis ihm fast die Stimme versagte und legte sich scheinbar leidend die Hand auf die Kehle.
»Nimm es mir nicht übel«, keuchte er, während sich Hippias ernsthaft besorgt um ihn kümmerte, »aber mir ist nicht gut. Ich glaube, ich sollte mich lieber auf den Heimweg machen.«
»Natürlich, wenn du meinst, dass das besser ist, können wir gehen.«
»Aber du musst doch nicht mitkommen«, sagte Krates abwehrend, der seinem betrunkenen Freund ansehen konnte, wie wenig ihm der Gedanke eines Aufbruchs gefiel. »Feier du ruhig weiter, ich schaffe das schon alleine. Wir treffen uns dann morgen beim Frühstück.«
»Meinst du wirklich?« fragte Hippias mit glasigem Blick.
»Aber ja doch.« Krates hielt sich weiterhin die Hand an die Kehle und verabschiedete sich von den singenden Techniten.
Als er in die frische Nachtluft trat, war er heilfroh diesen Trunkenbolden endlich entkommen zu sein. Er hatte sich mit seinem vorgetäuschten Hustenanfall ein bisschen verausgabt und fasste sich an die nun tatsächlich schmerzende Kehle, als ihn plötzlich jemand rief.
»He, Krates! Seit wann bist du bei den Techniten?«
Krates wandte sich um und erkannte seinen Schüler Panaitios, der eine Fackel in der Hand hielt und ihm freundlich zunickte. »Einer meiner Freunde ist Technit und hatte mich heute zur Einweihung des Vereinshauses eingeladen.«
»Darf ich dir etwas Warmes anbieten oder musst du gleich weiter?«
Krates überlegte kurz. Er hatte sich schon darauf eingestellt nach Hause zu gehen, doch die Einladung war verlockend, zumal ihm die Unterhaltungen mit Panaitios fast noch mehr Vergnügen bereiteten als die Streitgespräche mit Zenodotos. Panaitios war eben ein Mann von Welt, der über einen scharfen Verstand verfügte und trotz seines noch relativ jungen Alters auch auf einen großen Erfahrungsschatz zurückgreifen konnte. Er folgte seinem Schüler in ein Haus, das sowohl von den Proportionen wie auch vom Schnitt her ganz ähnlich war wie sein eigenes. Zu seinem größten Erstaunen war es jedoch nicht so spartanisch eingerichtet wie er es von einem Studenten erwartet hätte, sondern überaus geschmackvoll und gemütlich. Auf den Böden der gut geheizten Räume lagen schöne Wollteppiche und zwischen den Möbeln standen gepflegte Bäumchen und Pflanzen.
»Gießt du die etwa selbst?« fragte Krates und deutete dabei ungläubig auf die Pflanzen, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass ein Mann und schon gar kein Philosoph die Routine besitzen konnte, eine Pflanze vor ihrer Vertrocknung zu retten.
Panaitios lachte, denn er wusste, worauf Krates’ Frage abzielte. »Nein, das ist Kamios Aufgabe.«
»Kamio?«
»Er ist mein Sklave.«
»Du hast einen Sklaven?«
»Aber natürlich. Du etwa nicht?«
»Nein«, erwiderte Krates kühl und überlegte sich, ob er ihm die Geschichte von Hippias und Silanos erzählen sollte, entschied sich aber dagegen. Stattdessen fragte er, ob Panaitios die Politiká des Aristoteles besäße.
»Tut mir leid«, entschuldigte sich Panaitios.
»Dann hole dir bitte Papyrus und Tinte, damit ich dir einen Absatz aus dem fünften Kapitel seines ersten Buches diktieren kann.«
»Jetzt?« fragte Panaitios ungläubig.
»Ja sicher.«
Als er etwas verwirrt mit seinen Schreibutensilien zurückkam, sprach ihm Krates den Text aus der Erinnerung vor und ließ seinen Schüler mitschreiben.
»Und?« fragte Krates lächelnd, nachdem er sein Diktat beendet hatte. »Was hältst du davon?«
Panaitios stutzte. Immerhin war es kurz vor Mitternacht und sein Lehrer begann hier eine Diskussion, die ohne Weiteres bis in die Morgenstunden andauern konnte. »Nun«, begann er ein wenig ratlos, »Aristoteles war ein großer Denker und seine Gedanken zur Politik sind in der Wissenschaft wie auch in der Gesellschaft hoch angesehen. Ich würde mal sagen, dass er Recht hat.«
»Ein gewagter Ansatz«, lächelte Krates grimmig und bedankte sich bei dem Sklaven, der ihnen zwei Schalen Wein gemischt hatte. Kamio war ein junger Mann von Mitte zwanzig, etwas schüchtern vielleicht, aber von gutem Körperbau und edlen Gesichtszügen. Krates mochte sich nicht vorstellen, bei welcher Gelegenheit er in die Sklaverei geraten sein mochte, aber eines stand fest: Der Junge kam ursprünglich aus gutem Hause.
»Kamio«, sprach er ihn an, »warte noch einen Moment. Tu mir doch den Gefallen und stell dich einmal gerade hin. Schultern nach hinten, Brust nach vorne. Ja, so ist das wunderbar. Und jetzt stell du dich daneben, Panaitios.«
»Nein, das mache ich nicht. Du kannst gehen, Kamio. Die Vorstellung ist beendet.«
»Warum sträubst du dich denn dagegen?« fragte Krates spöttisch, nachdem der Sklave mit einer verlegenen Entschuldigung gegangen war. »Du hast doch eben noch behauptet, dass Aristoteles Recht habe. Wovor also hast du Angst?«
»Du weißt genau, dass Kamio kräftiger ist als ich.«
»Also müsstest du eigentlich sein Sklave sein, oder wie?«
Panaitios starrte seinen Lehrer grimmig an.
»Ich will dir etwas sagen, Junge. Aristoteles hat wahrlich gute Gedanken gehabt und ich schätze seinen Geist, auch wenn ich als Stoiker natürlich nicht mit allem einverstanden bin, was er geschrieben hat. Aber diese Passage, die ich dir eben diktiert habe, solltest du nie vergessen. Denn sie ist mit Abstand das Niederträchtigste und Dümmste, was die Philosophie je zu Papier gebracht hat, zumal sie auch einen Zirkelschluss enthält, den man von einem so erfahrenen Logiker wie Aristoteles nicht erwarten würde.«
»Ich werde darüber nachdenken«, versprach Panaitios. »Glaubst du eigentlich an die Unsterblichkeit der Seele?«
Krates wusste, worauf sein Schüler anspielte und musste lachen. Die stoische Lehre, der sie beide angehörten, ging davon aus, dass die Welt vergänglich, die Seele dagegen unsterblich wäre. »Nein, ehrlich gesagt nicht. Was freilich nicht heißen muss, dass die Seele am Ende nicht doch unsterblich sein kann. Aber diese Frage hat mich nie sonderlich beschäftigt.«
»Mich auch nicht«, lächelte Panaitios leise, als würde er ihm ein Geheimnis anvertrauen, das man nur hinter vorgehaltener Hand aussprechen konnte. »Ich bin sogar fest davon überzeugt, dass es sich andersherum verhält, nämlich dass die Welt unsterblich, die Seele dagegen vergänglich ist. Deshalb sollte auch das Ziel der Weisen die Vollendung der Vernunft sein, das Ziel der gewöhnlichen Menschen die Vollendung ihrer eigenen Natur und zwar jeweils zu ihren Lebzeiten.«
»Ein spannendes Thema«, ereiferte sich Krates, »zu dem mir übrigens auch wieder deine Idee einfällt die Grundwerte der Stoa zu erneuern. Was würdest du denn daran ändern wollen?«
Panaitios strahlte Krates an. »Nun, zu allererst würde ich die Verbote rausnehmen. Meine Güte, wenn du Zenon oder Chrysippos liest, stößt du immer wieder auf feinsinnig verpackte Argumentationen, die letztlich nichts anderes sagen als: ›Du sollst dies nicht‹ oder ›Du sollst das nicht‹. Was für ein Unsinn! Ich glaube, die weitaus bessere Alternative sind Empfehlungen. Denk an die Erziehung deiner Kinder: Verbote und Empfehlungen, beide mit derselben Absicht geäußert, führen in den meisten Fällen in entgegengesetzte Richtungen. Und da gefällt mir doch der Erfolg meiner Absichten wesentlich besser, findest du nicht?«
Krates musste herzlich lachen. »Sehr überzeugend, dein Ansatz. Und solltest du jemals Gelegenheit dazu haben, die Verbote der Stoa durch ebenso gut hinterlegte Empfehlungen zu ersetzen, so hast du meine volle Unterstützung.« Er machte eine kurze Pause, genoss den Wein und betrachtete dabei nachdenklich den rußenden Docht der Tischlampe. »Du erinnerst mich ein bisschen an Scipio.«
»Wer ist Scipio?«
Krates erzählte ihm von seiner Zeit in Rom und geriet dabei so ins Schwärmen, dass er stundenlang berichtete. Panaitios indes war ein vorzüglicher Gastgeber, der Krates erzählen und diskutieren ließ und immer für genügend Nachschub an Wein und Salzgebäck sorgte, so dass sie sich erst in den frühen Morgenstunden trennten, als es schon zu dämmern begann und aus der Unterstadt die ersten Hähne krähten. Das Fest der Techniten war längst vorbei und die Fackeln vor dem Vereinshaus gelöscht. Beschwingt und in Gedanken noch immer bei der Unterhaltung mit Panaitios kehrte Krates über die Hauptstraße in die Unterstadt zurück.
Als er schließlich gegen Mittag erwachte, lag Livia neben ihm und strich ihm sanft durchs Haar.
»Guten Morgen, Liebster. War’s schön, gestern Abend?«
Er gähnte. »Der erste Teil nicht, der zweite überaus.«
»Du bist ziemlich spät heimgekommen. Wenn ich mich recht erinnere, hat es schon gedämmert.«
»Ich war bei meinem Schüler Panaitios, der gegenüber dem Vereinshaus wohnt. Er hatte mich auf der Straße erkannt, als ich Hippias und seine Techniten verließ und lud mich noch auf einen Wein ein.«
»Aus dem dann ein paar Amphoren geworden sind, nehme ich an.«
»Ich weiß es nicht. Aber es war ein nettes Gespräch ohne das selbstherrliche Geschwätz dieser Dummköpfe.«
Livia lachte. »An die Techniten werden wir dich also nicht verlieren.«
»Beim Zeus, nein!«
* * * * * * * * *
Die Wintermonate verstrichen und die Temperaturen wurden wieder deutlich milder. Verträumt schaute Krates über die Brüstungsmauer des Museions auf die Gärten der Unterstadt, in denen schon die Bäume blühten. Der leichte Wind wehte ihm eine Verheißung von Wärme entgegen und auch die Vögel waren aus dem Süden zurückgekehrt. Der Frühling kommt, dachte er glücklich und atmete erleichtert auf. Er war kein Freund des Winters, aber er konnte ihn akzeptieren, denn ohne ihn gäbe es keinen Frühling und gerade der Frühling war in Pergamon so wunderschön.
Er verbrachte viel Zeit in der Bibliothek und seinen Seminaren, die in den letzten zwei Monaten so gut besucht waren, dass er die Teilnehmerzahl beschränken musste. Die Halle der Studentenunterkünfte oberhalb der Altarterrasse war schon seit Monaten überbelegt, sodass sich viele Schüler in den Herbergen der Unterstadt einquartieren mussten, mit denen Krates einen Sondertarif ausgehandelt hatte, den er vom Budget der Bibliothek finanzierte. Seine Söhne trainierten mittlerweile fast den ganzen Tag und Livia genoss die Ruhe, wenn Zenodotos und ihre drei Männer aus dem Haus waren.
Am Morgen des Festtages, mit dem die unter Eumenes eingeführten Pergamenischen Spiele begannen und auf den sich die Stadt schon seit Wochen vorbereitete, zeigte sich der Frühling von seiner besten Seite: Der Himmel war wolkenlos und die Temperaturen angenehm warm. Die Kunde vom gewonnenen Krieg hatte sich längst herumgesprochen und doch konnte es keiner erwarten, diese Nachricht endlich aus offizieller Quelle zu hören. Daher hatte sich zu der königlichen Eröffnungsrede, die Attalos anlässlich der Pergamenischen Spiele unterhalb des Eumenischen Tores hielt, fast die ganze Stadt versammelt. Bunte Fahnen und Wimpel schmückten den Platz um die frisch geharkte Laufbahn der Athleten und an den Masten über der königlichen Tribüne wehte das pergamenische Banner.
Andachtsvoll lauschte die Menge dem König, doch als er das offizielle Kriegsende bekannt gab und auf Grund seines hohen Anteils an den Reparationszahlungen, den er mit den Römern aushandeln konnte, deutliche Steuersenkungen in Aussicht stellte, brach ein Jubel aus, der die Ebene erfüllte und noch von den Bergen widerhallte.
Die Spiele, zu denen nicht nur die Wettkämpfer aus Pergamon und dem Umland, sondern auch Athleten aus den Nachbarländern gekommen waren, begannen mit den Vierstadienläufen der Knaben, zu denen auch Apollodoros und Philetairos gehörten. Gemeinsam mit jeweils dreißig anderen Kindern standen sie an der Startschwelle und waren selbst auf die Entfernung durch ihre leuchtend roten Trikots gut erkennbar. Zuerst lief die Gruppe des Philetairos. Der kleine Junge legte sich tüchtig ins Zeug und lief tatsächlich mit einigem Vorsprung vor den anderen ins Ziel. Während der Siegerehrung, bei der Telephos stolz den vergoldeten Ölzweig entgegennahm, brach Livia in Tränen aus und auch Krates musste sich stark zusammennehmen, um nicht vor Rührung zu weinen. Um Apollodoros mussten sie sich weitaus weniger Sorgen machen, denn der Junge hatte in den letzten Jahren eine solche Kraft entwickelt, dass er den meisten Gleichaltrigen haushoch überlegen war. Dennoch musste er seinen Anspruch auf den ersten Platz an einen Jungen aus Aigai abtreten. Als Krates’ Söhne erschöpft, aber auch überglücklich auf die Tribüne kamen, konnte er nicht umhin sie stolz in die Arme zu nehmen.
»Ihr habt gekämpft wie zwei Löwen«, lobte er und fügte mit einem schmunzelnden Seitenblick auf Livia hinzu: »Wie zwei römische Löwen.«
Nach den Wettläufen folgten die Ringkämpfe, für die sich vor allem Telephos interessierte. Krates indes hatte genug von dem Rummel und verabschiedete sich von Livia und den Kindern, um in die erholsame Ruhe der Bibliothek zu flüchten. Er betrat das Heiligtum der Athena und stieg langsam über das Treppenhaus des Eckturms in die Bibliothek. Die Ruhe und der vertraute Duft der staubigen Papyri taten ihm gut.
Nachdenklich ging er zu einem der kleinen Fenster, die sich nach Norden hin öffneten und blickte über die Hallendächer des Museions auf die neue Stoa und die Kirschbäume des Palastgartens.
Er war jetzt Mitte vierzig, stand gewissermaßen in der Blüte seines Lebens und hatte alles erreicht, wovon er jemals geträumt hatte. Er leitete die Bibliothek und hatte sich mit ihrer Neuordnung über die Grenzen Pergamons hinaus einen Namen gemacht. Er hatte die Stoa gegründet, die er seit einem halben Jahr leitete, ganz so, wie es ihm Agathon einst gewünscht hatte. Als Gesandter des Königs war er ebenso erfolgreich gewesen wie als Philosoph; acht Bücher hatte er in den letzten Jahren veröffentlicht, die der scharfen Kritik der Alexandriner nach zu urteilen dem gesamten Kulturkreis seiner Welt bekannt waren. Und er besaß eine großartige Familie, die er nicht nur von Herzen liebte, sondern auf die er auch stolz war.
Der warme Wind, der ihm durchs Fenster entgegenwehte, blies ihm das angegraute Haar aus der Stirn und ließ ihn den Moment mit einem tiefen Glücksempfinden genießen.
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