KRATES – Prolog

Mallos im August 125 v.Chr.

Wenn sich der Wind für einen kurzen Moment legte, wurde es immer sehr still. Der alte Mann saß vor dem unteren Stadttor und beobachtete, wie die Sonne langsam über dem Golf von Issos aufstieg und das unter ihm liegende Meer zu glitzern begann. Über der Straße nach Magarsa flimmerte die Morgenluft. Er blickte auf die fernen Wolken am Horizont, die den Regen nicht bringen wollten, auf den die Stadt nun schon seit Wochen wartete. Mühsam erhob er sich. Das Gehen fiel ihm mittlerweile schwer, aber er ließ sich davon wenig beeindrucken. Er betrachtete die wuchtigen Stadtmauern, hinter denen schon die ersten Hähne krähten und fragte sich, ob sie jemals wieder ihrem Zweck dienen würden. Denn seitdem die Römer den Westen Asiens zu ihrer Provinz erklärt und auch den Osten weitgehend befriedet hatten, gab es keine Feinde mehr, vor denen sich seine Heimatstadt fürchten musste.

Er passierte das Stadttor und erinnerte sich schmunzelnd an seine Jahre in Tarsos. Denn in der Großstadt glichen die Straßen zu dieser Tageszeit längst einem wogenden Meer aus Händlern und Gewerbetreibenden. Mallos wirkte dagegen immer wie ein verschlafenes Nest. Er schritt über die Hauptstraße zum Marktplatz, wo die ersten Händler in aller Ruhe ihre Stände aufbauten. Vor dem Rathaus, in dem sich sein Vater Zeit seines Lebens um das Wohlergehen der Stadt bemüht hatte, begegnete er einem jungen Mann, der ihm einen Brief aus Tarsos überreichte. Er nahm die Schriftrolle an sich und erbrach das Siegel. Als er die ersten Zeilen las, traten ihm Tränen in die Augen.
»Schlimme Nachrichten?« fragte der junge Mann mitfühlend.
»Gute Nachrichten!« erwiderte er leise und bedankte sich. Er klemmte sich den Brief unter den Arm und schlenderte zu der Backstube am Ende der heiligen Halle.

Früher hatte es hier einen Töpfer namens Hyperides gegeben, der in seiner Werkstatt die schönsten Vasen des Umlandes herstellte. Aber wie so vieles in Mallos gab es auch diesen Vasenmaler nicht mehr. Er grüßte den Bäcker, kaufte sich ein paar Sesamkringel und ließ sich im Schatten der Säulen nieder. Nachdenklich blickte er auf den alten Olivenbaum in der Mitte des Marktplatzes, unter dem ein paar Kinder mit kleinen Steinen spielten. Er selbst hatte keine Kinder und für einen kurzen Moment bereute er es. Dann riss er sich aus seinen Gedanken und entrollte langsam und mit zittrigen Händen den Brief. Schon bei den ersten Absätzen wurde ihm warm ums Herz und er versank in einer anderen Welt.

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»Krates aus Pergamon grüßt seinen Zenodotos.

Der große Euripides schrieb einst in einer seiner Tragödien, dass “die Zeiten sich wandeln, das Schlechte aber bleibt”. Nun, wenn ich von meinem heutigen Standpunkt aus zurückblicke, so würde ich sagen, dass er sich geirrt hat. Denn es müsste besser heißen, “das Gute aber bleibt.” Ich sitze hier an meinem Schreibtisch und blicke über die Dächer in die Ebene, auf das Nikephorion und das am Horizont glitzernde Meer. Livia kümmert sich um die Enkelkinder, die mit unseren Söhnen zu meinem fünfundsiebzigsten Geburtstag aus Aigai gekommen sind. Es ist schön, eine große Familie um sich zu wissen, und ich freue mich, dass mich die Götter noch immer mit einer so vitalen Gesundheit segnen.

Fünfundsiebzig Jahre, mein Zeno, sind eine lange Zeit. Und wenn ich mir überlege, dass ich, wenn schon nicht mein Schicksal, so doch allemal die Richtung meiner Wege und das Reisetempo immer selbst bestimmt habe, so kann ich guten Gewissens sagen, dass ich es auch bei einem zweiten Anlauf nicht anders machen würde. Fünfundsiebzig Jahre sind aber auch ein gegebener Anlass, um über den Lauf der Welt und darüber nachzudenken, ob wir unseren Kindern und Schülern in Bezug auf die möglichen Wege und das beste Tempo immer den richtigen Rat gegeben haben – oder ob es hier, und wenn schon!, im letzten Moment noch einer Korrektur bedarf.«

Zenodotos hob den Kopf und blickte nachdenklich auf die Säulen der gegenüberliegenden Markthalle. Er wusste wohl, dass sein Lehrer um die fünfzehn Jahre älter war als er, doch das hohe Alter von fünfundsiebzig Jahren so ausgeschrieben vor sich zu sehen, erfüllte ihn doch mit tiefer Ehrfurcht. In seinem weiteren Bericht stellte Krates einen kurzen Abriss der Geschehnisse dar, die sich seit Zenodotos’ Abreise in Pergamon ergeben hatten. Natürlich war Zenodotos über das meiste informiert, doch die freundschaftliche Nähe zu seinem Lehrer und dessen ausführlicher Bericht ließen ihn schaudern. Als er schließlich zu der Briefstelle kam, in der ihm Krates von dem Gespräch berichtete, das er einst mit seinem Freund Hippias geführt hatte, setzte Zenodotos abermals ab und blickte erstaunt auf. Denn die Szene der Kinder, die dort unter dem alten Olivenbaum spielten, glich so sehr dem im Brief beschriebenen Bild, dass er unvermittelt lachen musste. Er schloss die Augen und stellte sich jenen Sommer- morgen vor, an dem Krates noch ein Junge war und seine Geschichte ihren Lauf nahm.

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