Frank-Arne Knoth

DIE HARFENSPIELERIN VON PANDARA


In den Wäldern des Taugetos schien die warme Luft zu stehen. Nur ab und an schob sich eine leichte Brise durch die Pinien, raschelte leise in den Zweigen und wehte den kühlen Hauch der Adria in die Hitze der messenischen Berge. Den Karten nach zu urteilen befand ich mich nahe der antiken Gebirgsstadt Pandára und meine Vermutung, dass die Römerstraße XXVII von Sparta nach Kalamata, dem antiken Pharai, dereinst auch an Pandára vorbeigeführt haben müsse, schien sich zu bestätigen. Ich wanderte weiter, bis ich die ersten Ruinen von Pandára erreicht hatte, nahm meinen Rucksack ab und setzte mich in den Schatten einer Pinie.

Während ich einen der letzten Schlucke aus meiner Feldflasche genoss und sorgenvoll Francis’ Reisebeschreibungen studierte, der hier vor über 180 Jahren vorbeigekommen war und dabei die antike Quelle von Pandára wiederentdeckt hatte, fiel mir die breite Steinsetzung auf, die keine 20 m von mir entfernt durch den Wald führte und nach der Art ihrer Pflasterung und ihrer Trassenführung zweifelsohne ein nach Pandára führendes Reststück der alten Via XXVII war.

Ich fotografierte die Trasse und maß sie über GPS und Theodolit ein, machte mir ein paar Notizen über ihren Erhaltungszustand und die Achsbreite der in den Stein eingefahrenen Wagenspuren und ließ mich wieder unter meinem Baum nieder. Die nachmittägliche Sonne verschwand schon hinter den Bergspitzen und tauchte die Waldlandschaft in ein golden glänzendes Licht. Ich musste zusehen, dass ich einen Lagerplatz fand, an dem ich mein kleines Zelt aufbauen und mir auch ohne die Gefahr eines Waldbrandes ein Feuerchen für den Abendtee anzünden konnte.

Und wie ich so dasaß und über die landschaftlichen Genüsse dieses Forschungsauftrages nachdachte, hörte ich durch das monotone Zirpen der Grillen den zarten Klang eines Harfenspiels – leise, melancholische Akkorde, die von irgendwo aus der Ferne kamen, immer wieder im leisen Rauschen des Windes abrissen und von neuem ertönten. Erst dachte ich, ich würde träumen, doch dann hielt ich inne und hörte neben den Klängen der Harfe auch den fremdartigen Gesang einer jungen Frauenstimme. Ich nahm meinen Rucksack, stapfte über die Via Romana in die Ruinen von Pandára und versuchte den Quell dieses Harfenspiels zu finden.

Je tiefer ich in das von Mauerresten und Gebäudetrümmern übersäte Gebiet kam, desto klarer tönten die Klänge der Harfe und des Gesangs. Ich erreichte eine kleine Lichtung auf der Hügelspitze und sah unter mir – mitten im Wald – die steinernen Stufen und Tribünen des antiken und fast vollständig überwucherten Theaters. Zunächst wollte ich meiner Neugierde Luft machen, doch dann wurde mir klar, dass ich damit nur riskieren würde, Harfenspiel und Stimme verstummen zu lassen und überlegte es mir anders. So stellte ich mein Gepäck unter einen Baum am Rande der Lichtung und baute zunächst mein Nachtlager auf.

Als ich eine halbe Stunde später die Stufen des Theaters hinabstieg, sah ich eine junge Frau, die barfuß und nur in ein luftiges, weißes Kleid gehüllt unter einer Pinie saß, einen Kranz aus Blumen und Gräsern trug und an den Saiten einer kleinen Harfe nach der Art der antiken Psalteria zupfte. Ich schaute mich um und suchte zunächst nach ihrer Begleitung. Doch so weit meine Bögen um das Theater auch waren, ich konnte keine Menschenseele entdecken, die sich außer uns beiden in Pandára befand.

Es schien mir unmöglich. Sie konnte doch nicht allein hier oben sein. Und wie, wenn nicht über den gleichen Weg wie ich? Aber barfuß??? Ich nahm mir ein Herz und ging auf sie zu, um sie das selbst zu fragen.

»Kalispera, Kyria.«
»Kalispera, filos mu. Echo ädä sas perimenume…«
»Wie meinen Sie das, Sie hätten auf mich gewartet?«
»Nun ja«, erwiderte die junge Frau, »ich habe gehört, wie Ihr durch den Wald kommt und so habe ich auf meiner Harfe gespielt, damit Ihr mich findet.«
Ich blickte sie fragend an, doch sie schien dem nichts hinzufügen zu wollen und hatte sich wieder ihrem Instrument gewidmet. Die Pinien, die über den Jahrtausende alten Steinstufen des Amphitheaters wucherten, erstrahlten bereits im braun goldenen Licht der Abenddämmerung und am Horizont begann sich der Mond über die Baumwipfel zu erheben. Ich saß neben der jungen Frau auf den Stufen, lehnte mich zurück und lauschte ergeben ihrem Harfenspiel.

Plötzlich brach sie ihr Lied ab und lächelte mich freundlich an.
»Wie heißt Ihr?«
»Mein Name ist Frank«, antwortete ich höflich. »Oder Arne, wenn Ihnen das lieber ist.«
»Das klingt fremdartig.«
»Ja, es sind nordische Namen.«
»Und was bedeuten sie?«
»Sie gehören beide zusammen und bedeuten so viel wie ‚Der freie Adler‘.«
Sie lächelte wieder. »Man nennt mich Psaltria.«
»Aber das bedeutet ja Harfenspielerin!«
»Ja …« Ihr Lächeln schien sich nach innen zu kehren so, als würde sie an etwas denken, was weit zurück in ihrer Vergangenheit läge. »Ja, es bedeutet Harfenspielerin.« Sie legte ihre Harfe beiseite und setzte sich dicht neben mich auf den warmen Stein des Amphitheaters.
»Warum seid Ihr hergekommen?«

»Ich kartografiere die Via Romana, die einst von Sparta nach Pharai ans Meer führte. Der Teil von ihr, der durchs Gebirge verlief, ist noch nie vermessen worden und daher in keiner Karte verzeichnet.«
»Die Straße des Unglücks…« Psaltria blickte mich traurig an. »Was interessiert Euch dieser alte Weg? Er bringt den Menschen nur Unglück.«
»Nun«, lächelte ich, »mir bringt er kein Unglück. Mir bringt er Geld.«
»Ja, aber damit beginnt doch das Unglück. Früher, als es diese Straße noch nicht gab, war das Geld ziemlich unwichtig. Erst später, als die Römer kamen und uns diese Straße bauten, wurde es wichtig mehr Geld zu besitzen als das, was sie uns an Steuern abnahmen. Die Bauern verkauften ihre Waren nicht mehr auf dem Markt von Pandára, sondern in den Nachbarstädten und unser eigener Markt füllte sich mit den Händlern und Handwerkern aus der ganzen Peloponnes. Alle wollten nur noch Geld, aber das Geld hat die Menschen in Arm und Reich aufgeteilt und ihnen ihre Güte und Umsicht genommen.«

»Wenn ich das richtig verstehe, so wäre die Wurzel dieses Unglücks aber doch eher das Geld. Und selbst dabei würde ich sagen, dass Geld allein den Charakter der Menschen nicht verdirbt, sondern ihn vielmehr entlarvt. Wieviele Wohlhabende gibt es, die trotz ihres Reichtums nicht geizig sind, und wieviele arme Leute wollen trotz der sie umgebenden Not nicht mit anderen teilen?«
»Natürlich«, räumte Psaltria ein, »und doch wäre das Geld ohne die Straße ziemlich uninteressant geblieben. Erst durch die Straße wurde Pandára mit dem Rest der Welt verbunden und den hier lebenden Menschen die Möglichkeit gegeben über die vermeintlichen Vorteile des Reichtums nachzudenken und dadurch ihren wahren Charakter zu zeigen. Hätten die Römer ihre verdammte Straße für sich behalten, wäre uns viel unnötiges Leid erspart geblieben.«

»Psaltria, sagen Sie mir …«
»Ich glaube, mein Adler, wir sind hier ganz unter uns.«
»Na schön«, erwiderte ich, »dann sage mir doch, Psaltria: Wer bist du? Und was machst du hier oben in dieser Gott verlassenen Gegend?«
Sie schien meine Frage nicht gehört zu haben. »Sieh nur, wie der Mond und die Sterne den Himmel erobern!«

Die blutrote Farbe des Abendhimmels wich mehr und mehr den Violett- und Blautönen der Nacht. Vereinzelt sahen wir schon die Sterne funkeln und die matte Scheibe des Mondes, die sich gemächlich über die Baumkronen der Pinien ins Zentrum des abendlichen Firmaments schob. Psaltria entledigte sich ihres Blumenkranzes, so dass ihr das schwarzbraune Haar in langen Wellen über die Schultern auf den Rücken fiel. Sie besaß ein wunderschönes Gesicht und erst jetzt, in der schummrigen Abendbeleuchtung fiel mir ihre erotische Ausstrahlung auf.

Unter ihren leicht geschwungenen Brauen folgten zwei mandelförmige Augen mit langen Wimpern und braungrauen Pupillen. Ihre fein geschnittene Nase endete über einem sinnlichen Mund, der mich stark an den Marmormund der vielstudierten Venus von Milo erinnerte. Die straffe Haut ihrer Wangen verriet die Backenknochen, doch ihr voller Hals und die braungebrannten Arme ließen einen guten Körperbau erahnen. Ich spürte, wie mich der Anblick ihrer kühnen Linien erregte. Als sich unsere Blicke trafen, schenkte sie mir wieder ihr wissendes Lächeln und legte zärtlich ihre Hand in meinen Nacken.

»Jetzt ist die Sonne untergegangen, mein Adler, und selbst der klägliche Rest deiner Straße nicht mehr zu sehen. Vergiss sie doch einfach, nur bis morgen früh und konzentriere dich einzig und allein auf mich.«
Schlagartig musste ich an Odysseus denken, der sich von seinen Freunden hatte an den Mast seines Schiffes binden lassen, um den Lockrufen der Sirenen zu widerstehen. Ich aber war allein, und festgebunden war ich auch nicht. So konnte ich nicht anders, als dem Verlangen meines Körpers zu gehorchen. Doch noch bevor ich mir der unwirklichen Situation bewusst wurde, hatte sie bereits meine Hände genommen und zog mich zu sich hin.

Ihr Hals duftete herrlich nach dem Lavendel und der Myrthe ihres Kranzes und ihre Lippen schmekcten nach Mandeln. Ich merkte, wie das Blut in meinen Adern pulsierte und sich mein Verlangen ins Unermessliche steigerte. Meine Lust nur schwer unter Kontrolle haltend, knöpfte ich langsam ihr Kleid auf, berührte ihre Knospen mit leichten Zungenschlägen und liebkoste ihren weichen Körper mit meinen Lippen. Zentimeter für Zentimeter eroberte ich ihr Terrain, schob behutsam den Stoff ihres Kleides beiseite und streichelte den sich vor Wonne biegenden und zitternden Körper. Als wir uns kurze Zeit später gegenüber standen und sich unsere Zungen und Körper unte den Liebkosungen trafen, warf der Mond unsere Schatten über die Steinsitze des im matten Licht schimmernden Amphitheaters.

Ich hob ihr Kleid von den Stufen, nahm Psaltria in die Arme und trug sie wie durch einen reißenden Strom der Liebe die Stufen des Theaters hinab in das große Rund der Arena. Dort breitete ich ihr Gewand aus und bettete ihren nun vom weichen Schein des Mondes zärtlich umspielten Körper hinein. Ich berührte ihre weichen und doch kräftigen Brüste, streichelte ihren Körper und verwöhnte sie, bis sie mich zu sich hinzog und mir unter heißen Küssen und mit dem Feuer der Kypris in den Augen gebot, sie zu nehmen.

Wir liebten uns wild und vollzogen den Wettlauf der Kypris, bis wir uns ein zweites Mal wonnig verkrampften und einander den Atem unter leidenschaftlichen Küssen erstickten. Als wir eng umschlungen und unerhört glücklich auf ihrem im Mondlich weiß leuchtenden Kleid lagen, dem Lied der Zikaden lauschten und in den klaren Sternenhimmel schauten, hörte ich, wie Psaltria leise ein Lied vor sich hinsummte. Es klang wunderschön und ich fragte sie, was das für ein Lied sei.

»Es ist ein Lied von Dioskurides. Ein Lied über die Liebe.«
»Dioskurides hat viel über die Liebe geschrieben«, sagte ich.
»Was weißt du denn von Dioskurides?«
»Ich habe einiges von ihm gelesen. Früher, als ich noch zur Schule ging.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel das Epigramm für Doris: Dorida tän rhodopygon hyper lecheohn diateinas …«
Psaltria schaute mich ungläubig an. »Das ist genau der Text zu dem Lied, das ich eben gesummt habe …«
»Es ist ein Lied?«
»Ja, Dioskurides hat nur Lieder geschrieben. Wenn du möchtest, kann ich es dir beibringen.« Und sie begann leise zu singen.

Ich fragte sie nicht, woher sie dieses Lied kannte, sondern genoss nur ihre Nähe, den zarten Klang ihrer weichen Stimme und den Anblick des unendlichen Sternenhimmels. Bevor sie in meinen Armen einschlief, sah sie mir noch einmal mit traurigem Blick in die Augen.
»Vergiss deine Straße, mein Adler. Auch, wenn du es jetzt vielleicht noch nicht glauben magst, sie wird dir kein Glück bringen. Und wenn du dich später einmal dieser Tage erinnerst, so denke nicht an die Straße des Unglücks, sondern an Psaltria, die Harfenspielerin von Pandara.«
Ich nickte ihr glücklich zu und sie schenkte mir ein letztes Mal ihr wissendes Lächeln.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel und nur von ferne hörte ich die sanften Klänge von Psaltrias Harfe. Ich zog mich an und kletterte die steinernen Stufen des Amphitheaters hinauf, um sie zu suchen. Doch je länger ich suchte und je lauter ich rief, desto schwächer wurde der Klang ihres Liedes, bis er irgendwann für immer verstummte. Ich war wieder allein. Und entgegen meines anfänglichen Unmuts hatte sie sich sogar von mir verabschiedet. Ich wollte es nur nicht begreifen.

Ich entschloss mich, die von Francis beschriebene Quelle zu finden, meine Feldflasche mit frischem Wasser zu füllen und meinen Weg nach Nordosten fortzusetzen. Meine Reise dauerte weitere 14 Tage, doch Psaltria sollte am Ende Recht behalten; denn meine vorabendliche Hoffnung, in Pandára noch weitere Reststücke der Via Romana XXVII zu finden, entpuppte sich als ebenso fataler Irrtum wie der Plan, den bislang fehlenden Verlauf der Römerstraße nach Pherai finden und schließen zu können.

Als ich jedoch an jenem Morgen in Pandára nach einer langen und auf Grund von Francis’ ungenauen Beschreibungen ermüdenden Suche endlich vor der kleinen Gebirgsquelle stand, fand ich dort eine graue Steininschrift mit schön geschwungenen und wenn auch von Moos und Wasser stark erodierten, so doch immer noch gut lesbaren Lettern:

 

SPRING of PSALTRIA

in memory of the nice young
girl from Pandara

14.07.1783

***

J.M.C. FRANCIS