Verzweifelter Helfer

Eigentlich wollte ich heute segeln gehen. Doch im Schluchsee tummeln sich gerade die Blaualgen – ein Bakterium, das ab einer bestimmten Konzentration für den Menschen giftig wird. Die riesigen Schlieren auf dem See waren mir ehrlich gesagt schon vor einer Woche in der Schluchsee-Webcam aufgefallen. Aber jetzt hat das Gesundheitsamt reagiert und für den größten Schwarzwaldsee ein allgemeines Badeverbot ausgesprochen. Kein Wunder, dass die Leute nun überall die Flüsse und Bäche bevölkern.

Vor dem Hintergrund hätte ich also heute keinen Post geschrieben. Doch dann ist mir vorhin beim Einkaufen etwas widerfahren, das mich sehr nachdenklich gemacht hat. Auf dem Supermarkt-Parkplatz sprach mich ein etwa zehnjähriger Junge mit Fahrrad und Fahrradhelm an, ob er meinen Einkaufswagen zurückschieben dürfe. Vermutlich war er auf das Geld aus, aber in meinem Wagen steckte nur ein Plastikchip. Das sagte ich ihm und sah seine Enttäuschung, als er sagte: „Kein Problem. Schönen Tag noch.“ Ich lud weiterhin mein Auto voll und sah, wie er zum nächsten Supermarktkunden radelte und wieder seine Dienste anbot.

Klammer auf: Auch hierzulande gibt es Schnorrer und Bettler. Die erstgenannten mag ich nicht sonderlich, bei den Bettlern hingegen höre ich oft noch die Bitte um Hilfe aus der realen Not und dann helfe ich gern, wenn ich kann. Klammer zu. Bei dem Jungen indes hatte ich schon, als er mich ansprach, gespürt, dass er Angst hatte und offenbar wirklich in Not war. Als ich schließlich an ihm vorbeifuhr, fasste ich mir ein Herz und lenkte den Wagen auf den nächsten freien Parkplatz. Ich näherte mich ihm und lächelte ihm dabei freundlich zu. Ich fragte ihn, warum er sich eigentlich die Mühe mit den Einkaufswagen macht statt Zeitungen auszutragen oder den Rasen der Nachbarn zu mähen, denn damit könne man in seinem Alter doch viel mehr Kohle verdienen. Zu meiner Überraschung wurde der Junge rot und fing an zu stottern. Schließlich wandte er sich beschämt ab und ich sah, dass er weinte. Da wurde mir schlagartig klar, dass das alles echt war.

Sein Vater, erzählte er mir nach wiederholter Nachfrage, sei Alkoholiker und habe deswegen kürzlich seinen Job verloren, weil er auch bei der Arbeit an der Flasche hing. Wenn er abends nach Hause komme, schlage er meistens nur die Mutter, aber manchmal auch ihn oder seinen kleinen Bruder. Und jetzt komme eben noch dazu, dass der Vater das Geld von der Sozialhilfe nehme und die Familie oft nicht genug zum Essen hane. Der Junge sagte, er wolle seiner Mutter helfen, deshalb das Angebot mit den Einkaufswagen.

Ich fragte den Jungen nach seinem Namen, doch er schüttelte nur den Kopf. Ich fragte ihn, wo er wohne. Wieder nur ein Kopfschütteln und aus den Kinderaugen schrie die Angst. Was macht man da? Schließlich fragte ich ihn, was er denn mit den paar Euro machen wolle, die er aus den Einkaufswagen bekommt. Toastbrot und eine Dosensuppe, war die Antwort. Ich gab ihm einen Euro und bat ihn, einen der Einkaufswagen zu holen. Denn wir beide würden jetzt genau so viel einkaufen gehen, wie er in zwei Tüten an seinem Lenker tragen könne, wenn er das Rad nach Hause schiebt … Kinder können gleichzeitig lachen und weinen.

Am Ende hatten wir ALDI-Artikel im Wert von 27 Euro in zwei Jutetaschen. „Das ist ja wie Weihnachten vor fünf Jahren“, freute sich der Junge, als er die Taschen draußen an sein Fahrrad hängte. Was war denn vor fünf Jahren, wollte ich wissen. Da hatte sein Vater noch nicht getrunken und alles war in Ordnung. Ich sah, dass der Junge mir aus tiefstem Herzen danken wollte, aber nicht wusste wie. „Gott vergelt’s!“, sagte er nur leise, verbeugte sich leicht und schob sein Rad eilig davon. Ich blickte ihm noch eine Weile nach und mir wurde allmählich klar, dass das ein Fehler war. Ich hätte die Polizei rufen sollen.

Das habe ich dann tatsächlich auch gemacht und habe alles noch einmal erzählt. Die Beamtin, die mit mir telefonierte, war sehr freundlich. Sie nahm meine Personalien auf und versprach, der Sache nachzugehen, sagte aber auch gleich, dass es wenig gebracht hätte, wenn deswegen ein Streifenwagen gekommen wäre. Entweder wäre der Junge mit seinem Fahrrad ausgebüchst oder er hätte im Anschluss zuhause so viel Schwierigkeiten bekommen, vor denen ihn zu schützen nahezu unmöglich sei. Für den Moment, sagte sie, hätte ich vermutlich das beste getan, was man in einer solchen Situation machen kann. Es sei eine Tragödie, sagte sie seufzend. Eine Tragödie, wie es sie in Deutschland schon immer gegeben habe. Und in diesem Moment wurde mir wieder einmal klar, in was für einer heilen und mental gesunden Familie ich aufwachsen durfte.