Die verlorene Schwelle zum Meer

Oft schon hatte ich die alten Mauern am Autofenster vorbeiziehen sehen, wenn ich vom Baden in Pamucak zurück nach Selcuk fuhr. Und jedes Mal dachte ich mir: Eines Tages werde ich mir diese Mauern einmal genauer ansehen müssen. Als ich dann 1996 erstmals einen Baukran sah, der keine 100 Meter von der Ruine entfernt stand, beschloss ich, dem Gemäuer einen Besuch abzustatten, bevor es noch die Aufmerksamkeit von Leuten erregte, die seine Bedeutung nicht zu schätzen wissen.

Also schnappte ich mir mein Vermessungsgerät und machte vom Gebäude eine Bauaufnahme, die mich von Stunde zu Stunde mehr begeisterte. Denn entgegen meiner anfänglichen Vermutung schien es sich bei dem Gebäude um keine private Villa zu handeln. Dazu passten weder die Dimension und Aufteilung der Räume noch die Eingangssituation. Auch fehlten hier wichtige Räume wie z.B. ein beheizbares Bad, ein Vestibül oder Atrium gänzlich. Hinzu kam, dass das Gemäuer quasi direkt am antiken Treidelkanal lag, der vom Meer bis ins 5 km weiter im Landesinneren liegende Hafenbecken von Ephesus führte.

Mehr und mehr begriff ich, dass das Gebäude mit seiner überproportional großen und wohl schon im frühen Mittelalter als Kirche genutzten Zisterne mit dem Hafenkanal in Verbindung stehen musste. Letztlich sprach vieles dafür, dass es sich hierbei um das antike Hafenzollamt von Ephesos handeln musste. Da das Hafenbecken der ionischen Stadt schon im ersten Jahrhundert vor Christus von den Schwemmsanden des Kaystros verlandet war, hatte man einen künstlichen Kanal angelegt, der den alten Hafen mit der 5 km entfernten Küstenlinie verband.

Obwohl dieser Kanal, der im Gelände bis heute als Sumpfland deutlich erkennbar geblieben ist, bis zu 100 m breit war, konnten die antiken Schiffe in ihm nicht segeln, sondern mussten getreidelt werden. Damals stand das antike Gebäude am Treidelkanal fast an der ehemaligen Mündung ins Meer. Heute liegt die Uferlinie 600 m weiter westlich. Es liegt also nahe, am einstigen Beginn des Hafenkanals ein Gebäude zu vermuten, in dem die Zollformalitäten erledigt und die Schleppgebühren für die Treidelmannschaften kassiert wurden.

Ich muss heute mal schauen, ob ich die alten und nie veröffentlichten Fotos und Unterlagen meiner Bauaufnahme noch wiederfinde. Denn wie sich schon wenige Jahre später herausstellte, sollte dies die letzte Gelegenheit gewesen sein, die Ruine unbeschadet zu untersuchen. Heute steht dort kaum noch ein Stein auf dem anderen. In unmittelbarer Nähe befindet sich ein riesiges Feriendorf und eine scheußlich touristische Arena für Kamel-Schaukämpfe. Die Ruine ist verdreckt und mit Graffittis übersät, tausendfach als öffentliches Klo missbraucht und größtenteils von wildem Gestrüpp überwuchert. In ein paar Jahren wird man den Trümmerhaufen höchstwahrscheinlich abreißen und irgendetwas neues dorthin setzen.

Heute Nacht habe ich von diesem Tag in den Ruinen geträumt. Ich sah mich mit Maßband und Höhenmesser durch die Ruinen turnen und mit der Begeisterung eines Kindes zeichnen und schreiben. Als ich aufwachte, war ich so sehr in meiner Erinnerung gefangen, dass ich Google Gemini fragte, ob es mir zwei Bilder von jener Szene machen könne, die ich aus meinem Traum noch erinnerte: Die rekonstruierte Ansicht des ephesischen Hafenzollamtes vom nördlichen der beiden Treidelwege, die dort an der Mündung des Hafenkanals ziemlich eng beieinander lagen. Und voilà, hier sind die Bilder – ziemlich nah an dem, was ich in meinem Traum gesehen hatte.