Raum für ein neues Leben

Meine Großmutter väterlicherseits war eine unglaublich tolle Frau, die ich sehr bewundert habe und die (auch) mich sehr geprägt hat. Stolz und klug, aufrichtig, tüchtig, weltoffen … Bis 1992 wohnte sie in der Altbauwohnung direkt neben meinen Eltern, der Besuch bei den Großeltern war daher immer ein Nachbarschaftsbesuch. Acht Jahre nach dem Tod meines Großvaters entschied sie sich im Alter von 85 Jahren, in ein Altersheim zu ziehen.

Sie hatte sich frühzeitig um einen Platz in einem sehr noblen Stift gekümmert und wollte dort Fuß fassen, solange sie noch in der Lage war, neue Kontakte zu knüpfen. Aber das bedeutete natürlich auch, dass sie ihre Wohnverhältnisse drastisch verkleinern musste. Ihre Altbauwohnung in Hamburg Eppendorf hatte 182 Quadratmeter, das Appartement ihrer neuen Bleibe nur noch 39 Quadratmeter. Sie musste sich also von über 75% ihrer Möbel trennen. Nur von welchen?

Ich glaube, dass auch mich diese Aufgabe überfordert hätte und so schob sie die Entscheidung lange vor sich her, bis der Druck irgendwann so groß wurde, dass es ihr an die Nerven ging. Ich habe das damals nicht so sehr mitbekommen, weil ich zu dem Zeitpunkt schon in Heidelberg studierte. Doch als mir meine Mutter von der zunehmenden Verzweiflung meiner Großmutter erzählte, war mir sofort klar, mit welchem Weihnachtsgeschenk ich ihr eine Riesenfreude machen konnte …

Ich nutzte einen meiner nächsten Hamburg-Besuche dazu, sämtliche (!) Möbel meiner Großmutter aufzumessen und zu fotografieren und holte mir aus ihrem neuen Altersheim einen Appartement-Grundriss. Und während sich meine Kommilitonen abends auf den Heidelberger Weihnachtsmärkten rumtrieben, saß ich über der liebevollen Modellierung von Großmutters Möbeln im Maßstab 1:20.

Am Heiligabend 1991 war mein Geschenk für die Großmutter das voluminöseste von allen. Bei der Gelegenheit habe ich meine Großmutter auch das einzige mal weinen sehen – wenn auch nicht aus Trauer, sondern vor Glück. Denn mit Hilfe meines Grundrissmodells und den maßstabsgerecht dazu passenden Miniaturmöbeln durfte auch sie noch einmal Kind sein und sich ihr zukünftiges Zuhause wie ein Puppenhaus einrichten. Ihren Möbeln, deren jeweilige Geschichte ich ja nicht kannte, noch einmal so überschaubar zu begegnen, war eine unerwartete Freude.

Und erstaunlicherweise konnte sie auf diese Weise die neue Möblierung, in der sie dann noch ganze 17 Jahre bis zu ihrem 102. Geburtstag lebte, sehr schnell finden. Selbst die Heimleitung ihres Stifts war von der Idee so angetan, dass sie fragte, ob sie mein Modell in einer ihrer Vitrinen ausstellen dürfe. Und so stand es dort noch fast 10 Jahre lang, bis es bei irgendeinem Umbau verschwand.