Zwischen Ritual und Rausch

Eine vergessene Form der Gastfreundschaft

Es gibt Erinnerungen aus meiner Archäologenzeit, die mir heute fast surreal erscheinen. Besonders jene Abende, an denen offizielle Amtsträger nach endlosen Verhandlungsgesprächen plötzlich die Atmosphäre wechselten: Vom nüchternen Konferenztisch ging es an eine opulent gedeckte Tafel, und spätestens beim ersten Gang war klar, dass die eigentliche „letzte Hürde“ auf dem Weg zur Grabungsgenehmigung nicht in Paragraphen, sondern in Promille bestand. Wie ich das damals schaffte, bleibt mir bis heute ein Rätsel. Heute genügen mir ja schon zwei Gläser Wein, um ans Sofa gefesselt zu sein. Doch damals war ich trinkfest wie ein Berghirt, ohne je meine Eloquenz oder meinen festen Schritt zu verlieren.

Und diese Trinkgelage waren keine tumben Besäufnisse. Sie hatten Struktur, Rhythmus, ja fast etwas Zeremonielles. Es war ein Dialog in Worten und Schnaps, ein Hin und Her aus kleinen Geschichten, improvisierten Lebensweisheiten und bittersüßen Bekenntnissen, die im Alkohol erst ihren Charme entfalteten. Man prostete sich nicht einfach zu – man tanzte sich durch eine alkoholisierte Choreografie, die mehr Fantasie kannte als jede Standardfloskel.

Legendär waren für mich die kaukasischen Trinksprüche, die selbst einfachste Beobachtungen in poetische Bilder verwandelten: „Auf den Regen, der die Oliven wachsen lässt!“ oder „Auf die Frauen, die das Leben schöner machen!“ – schlicht, ehrlich, und doch voller Herz. Diese Sprüche besaßen etwas Archaisches, als würden sie aus denselben Gesteinsschichten stammen wie die Artefakte, nach denen ich grub.

Doch unschlagbar blieben für mich die türkischen Sprüche an einem langen Raki Mezeler Abend. Sie hatten Humor, Melancholie und Lebensklugheit in einem Atemzug. „Cam cama değil can cana!“ – nicht Glas an Glas, sondern Seele an Seele. Ein Satz, der nur in dieser kulturellen Mischung aus Wärme, Direktheit und feiner Poetik existieren kann. Oder die süffisant-traurige Beobachtung: „Bir dakika içinde onlarca kadına „Seni Seviyorum“ yalanını atabilirsin! Ama rakı masasında sadece bir kadının adını sayıklarsın.“ (Innerhalb einer Minute kann man zig Frauen die ‚Ich liebe dich‘-Lüge auftischen, aber am Raki-Tisch nennt man nur einen Namen immer wieder.) Diese Sätze waren nie nur Worte; sie waren Fingerzeige ins Herz, kleine Wahrheiten im Dunst der Anisschwaden.

Und dann natürlich die oft zitierte Mahnung: „Seçici olacaksın bu hayatta rakının sahtesi insanın kahpesi çarpar…“(Sei wählerisch im Leben, ein nachgemachter Raki kann dich so heftig treffen wie ein falscher Freund!) – eine Lektion, die weit über den Tisch hinausreichte. Ganz zu schweigen vom humorvollen Seufzer „Rakı şişesinde balık olsam…“ (Wenn ich doch bloß ein Fisch in einer Raki-Flasche wäre!), der jeden zum Lachen brachte.

Diese Trinksprüche waren mehr als Begleiter des Abends. Sie waren Geschichten in Miniaturform – und vielleicht gerade deshalb so unvergesslich. Und meine Grabungslizenzen habe ich jedesmal bekommen.