Geschichten des Lebens

Neun Bronzebrüste und ein juristisches Nachspiel

Der wohl mit Abstand merkwürdigste Fund, den ich während meines Studentenjobs als archäologischer Schnittleiter auf der hellenistischen Wohnstadtgrabung in Pergamon gemacht habe, waren die neun Bronzebrüste, die in der türkischen Lokalpresse für tüchtig Furore sorgten und schließlich in der Rehabilitierung einer ganzen Großfamilie aus Bergama gipfelten. Aber ich will euch die Geschichte von Anfang an erzählen …

Es war Mitte September 1991, als mich plötzlich meine Arbeiter zu sich riefen, weil sie im Schnitt unterhalb der antiken Straße etwas gefunden hatten. Ich eilte über die weitflächige Grabungsstelle, sprang von Schnittkante zu Schnittkante und balancierte über die langen Bohlenbretter, über die unsere Arbeiter Schubkarrenweise den Erdabhub abtransportierten, bis ich am oberen Ende der Grabung angelangt war. Und was ich dort erblickte, entlockte meiner Mimik ein ungläubiges Stirnrunzeln.

Fünf rotgolden glänzende Gefäße hatten die Arbeiter bereits aus dem Erdprofil geholt, vier weitere ließen sich im Schutt des Profils erahnen. Ich nahm eines dieser seltsamen Gefäße in die Hand und wog es bedächtig hin und her. Neun Bronze-Gefäße gleicher Form, 30 cm im Durchmesser, 25 cm lang, gut 1,5 kg schwer und eindeutig von Hand gemacht. Aber wozu???

Diese Bronzetöpfe waren gleich in mehrfacher Hinsicht merkwürdig. Erstens ließen sie sich keinem architektonischen Kontext zuweisen. Normalerweise steht jeder Fund mit der Architektur, in der er gefunden wurde, in irgendeinem Zusammenhang. Selbst weggeworfene Gegenstände liegen meist an Stellen, die sich hinter einem Gebäudekomplex befinden. Diese Töpfe aber hatten keinen Bezug zu irgendeinem Fundzusammenhang.

Zweitens stammten die Bronzegefäße aus einem gestörten Horizont – so nennen wir Archäologen neuzeitliche Erdschichten, die sich „(zer)störend“ durch ältere Schichten hindurchziehen. Denn in der gleichen Schicht befanden sich zwei osmanische Pfeifenköpfe, eine türkische Münze von 1884 und eine filigrane Jugendstilbrosche aus den 1920er Jahren.

Zum Dritten schien aber auch die Form der Töpfe selbst überhaupt keinen Sinn zu ergeben. Für Trink- oder Essgeschirr waren sie viel zu schwer und zu unhandlich. Für Kultgefäße fehlte indes der passende Fundkontext. Zusätzlich irritierend wirkte ihre Form, die allzu deutlich an weibliche Brüste erinnerte.

Ich erinnere mich noch, dass wir an jenem Abend im Grabungshaus viel gelacht haben, weil der scheinbar (!) sinnlose Fundkontext dieser neun „Bronzebrüste“ viel Raum für die absurdesten Spekulationen bot. Unser Amusement war aber nicht annähernd so laut wie das schallende Gelächter unseres Vorarbeiters Aydın Çavuş, der die Bronzetöpfe erst am nächsten Morgen in Augenschein nahm und sich vor Lachen kaum auf den Beinen halten konnte.

Aydın Çavuş (Hauptmann Aydın) war eine Legende auf der Pergamongrabung! Geboren 1894 und in Bergama aufgewachsen, wurde er 1912 zum Militär eingezogen und schlitterte dort wie Millionen andere Männer seiner Zeit direkt in den ersten Weltkrieg. Seinen Hauptmannstitel und zahlreiche Orden für herausragende Tapferkeit erhielt er 1915 nach der berühtmten Schlacht von Gallipoli durch Mustafa Kemal Paşa selbst, der später als Atatürk in die Geschichte einging.

Während die Türkei nach dem Ende des ersten Weltkriegs in ein neues Zeitalter aufbrach, wollte Aydın Çavuş vom Kriegführen nichts mehr wissen. Stattdessen nutzte er seine Kontakte zu den in der Türkei verbliebenen deutschen Waffenbrüdern der Gallipoli-Truppen und bewarb sich auf der archäologischen Ausgrabung von Pergamon. Theodor Wiegand, seit 1923 der oberste deutsche Ausgräber von Pergamon, war von den praktischen Fähigkeiten des relativ gut deutsch sprechenden jungen Mannes begeistert und beförderte ihn bald zum Vorarbeiter.

Da die Pergamon-Grabung ein Projekt des Deutschen Archäologischen Instituts ist und dieses direkt dem Auswärtigen Amt untersteht, war Aydın Çavuş von 1923 – 1991 sage und schreibe 68 Jahre für das Auswärtige Amt tätig, was ihn gleichzeitig (und sehr zum Unmut manches deutschen Politikers) zum ältesten Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes machte.

Aber wer glaubt, dass Aydın Çavuş im Jahre 1991 ein alter Greis gewesen sei, der irrt! Trotz seiner damals 96 Jahre war der Mann fit wie ein Turnschuh. Was umso erstaunlicher wird, wenn man bedenkt, dass er jeden Morgen noch vor Sonnenaufgang aufstand und von seinem Haus in Bergama 220 Höhenmeter bis zum Grabungsgelände hinaufwanderte, 9 Stunden auf der Grabung stand und unsere Arbeiter befehligte, um nachmittags wieder runterzustiefeln.

Aydın Çavuş also sah meine neun Bronzetöpfe und lachte, bis ihm die Tränen über sein zerfurchtes Gesicht rannen. Er lachte, weil er offenbar sofort wusste, was es mit diesen merkwürdigen, rotgolden glänzenden Frauenbrüsten auf sich hatte. In den 1880er Jahren, erzählte er uns, lange bevor er selbst geboren wurde, hat man über diesen Weg, und dabei zeigte er auf die antike Straße, die in weitem Bogen von der Akropolis über die römische Agora, an der Grabungsstelle vorbei bis in die Unterstadt führte, die schweren Friesplatten des Pergamonaltares transportiert.

Die Deutschen hatten dem Sultan die alten Steine für ein Wertpapier abgekauft, dessen Gegenwert auf heutige Währungsverhältnisse umgerechnet etwa 630 Millionen Euro entspricht. Es konnte also zu keinem Zeitpunkt die Rede davon sein, dass die Deutschen den Türken diesen Altar „geraubt“ hätten. Er wurde nach damals geltendem Recht mit Kaufvertrag erworben und nach Berlin verbracht, wo er bis heute im Pergamonmuseum zu sehen ist.

Um die marmornen Friesplatten mit den kostbaren Reliefs vom Burgberg in die Ebene zu transportieren, hatte man Ochsenkarren eingesetzt. Da diese Friesplatten mehrere Tonnen Gewicht hatten, waren Ochsen die einzigen Tiere, die über genügend Kraft verfügten, um die Wagen zu ziehen oder auch bergab zu bremsen. Durch das hohe Gewicht der Fracht aber kam es immer wieder vor, dass die Achsen brachen oder die Radnaben so heiß liefen, dass sie Feuer fingen.

Um dem entgegenzuwirken hatten die Deutschen Ausgräber in regelmäßigen Abständen Service-Stationen eingerichtet, die über Ersatzachsen und eine aus Kupfer angefertigte Spezial-Radkappe verfügten, die in die Radnabe griff und gut geschmiert ein Heißlaufen der Ochsenkarren-Räder verhinderte. Naja, und es kam wie es kommen musste: Eines Tages waren an einer der insgesamt 67 Stationen 9 Radkappen verschwunden.

Der türkische Arbeiter, der für die Bewachung dieser Station zuständig war, beteuerte bis zum Ende seine Unschuld. Aber die Behörden fanden schnell heraus, dass er hoch verschuldet war und ihn der Verkauf von nur 4 Bronzeradkappen vor dem sicheren Ruin bewahrt hätte. Das allein reichte wohl damals als mögliches Motiv aus, um den armen Mann 1884 schuldig zu sprechen. Er wurde zu mehreren Jahren Zuchthaus verurteilt und seine Familie in Bergama geächtet.

Die Fundlage der Bronze-Radkappen in meinem Grabungsschnitt zeigte jedoch deutlich, dass sie offenbar in einen Erdversturz geraten waren. Solche Erdverstürze haben wir selbst oft genug erlebt. Der Andesitboden in Bergama ist so trocken und voll von großen Steinen, dass man einen frisch aufgehäuften Erdhügel kaum von einem vorhandenen unterscheiden kann. So mag es auch an jenem Morgen im Jahre 1884 gewesen sein. Vermutlich verschwanden die Radkappen einfach unter einem Erdrutsch und in der anschließenden Hektik, vielleicht auch, weil ihr Verschwinden nicht direkt bemerkt worden war, waren sie nicht mehr sichtbar und wurden als „gestohlen“ deklariert – was natürlich jede weitere Suche überflüssig machte.

Als mein Fund im September 1991 bekannt wurde, verbreitete sich diese Nachricht wie ein Lauffeuer und die neun bronzenen Radkappen wurden schnell zum Corpus Delicti einer viel größeren Schande, nämlich dem Raub des geliebten Altares durch die bösen, bösen Deutschen. Glücklicherweise verhallte die Aufregung ebenso schnell wieder wie sie begonnen hatte, als man sich im Stadtgespräch wieder über ein gewonnenes Fußballspiel gegen die verhassten Griechen freuen konnte.

Der Einfluss Aydın Çavuş’s reichte immerhin aus, um den Fall des zu Unrecht verurteilten Mannes noch einmal neu aufzurollen. Und so wurde der türkische Arbeiter in einem Urteil des Obersten Zivilgerichts der Provinz Izmir 1992 offiziell rehabilitiert und seiner Familie ein üppiger Schadensersatz zugesprochen.

Maşallah!