




Der Knochenschutt von Pergamon
Jeder Archäologe kennt ihn, den rätselhaften Knochenschutt von Pergamon: Tausende Schicksale liegen in dieser mittelalterlichen Schicht und zeugen von einer Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes. Als ich 1992 an den Ausgrabungen des deutschen Archäologischen Instituts in Pergamon teilnahm, gelangt es einem Pathologenteam aus Göttingen das tausendjährige Rätsel zu lösen. Diesen Bericht habe ich am Ende der Kampagne, Anfang Oktober 1992 geschrieben. Und er hat seinen Thrill bis heute kaum eingebüßt …
Schon nach wenigen Erdabhüben treten die ersten Knochen zu Tage und mit jedem Spatenstich werden es mehr. Der sogenannte Knochenschutt von Pergamon ist eine knapp 40 cm starke Bestattungsschicht, die sich über den gesamten Burgberg von Pergamon und sogar noch bis weit in die Unterstadt hinabzieht. Bis zu drei Skelette liegen hier pro Quadratmeter übereinander: Frauen, Männer und Kinder. Anhand von Münzen und Schmuck lassen sich all diese Toten ins erste Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts datieren. Aber was hat sie getötet? War es eine Seuche? Ein Krieg? Oder eine Hungersnot?
Als erster war Theodor Wiegand 1926 auf diese Schicht gestoßen und hatte angeordnet, alle aus christlichen Befunden stammenden Knochen in Depots zu sammeln, um sie später im Beisein eines orthodoxen Priesters in geweihter Erde zu begraben. Allerdings hat man erst in den 1970er Jahren damit begonnen, die menschlichen Überreste in einem würdigen Rahmen zu bestatten.
Schon Wiegand, dem berühmten Ausgräber des großen Altares, war aufgefallen, dass die Toten des Knochenschutts zwar christlichen Schmuck trugen, aber nicht traditionell in west-östlicher Richtung bestattet worden waren. Vielmehr lagen sie kreuz und quer, teilweise sogar übereinander.
Auch die Grabbeigaben, sofern sich diese überhaupt feststellen ließen, warfen erhebliche Zweifel auf. Neben einigen Toten fand man bis zu 20 Tongefäße, die schon zum Zeitpunkt der Bestattung kaputt gewesen sein müssen. Neben anderen lagen hunderte rostiger Nägel, kleine Feldsteine oder mutwillig zerbrochene Fibeln.
Die Grabfunde aus dem pergamenischen Knochenschutt sind so ungewöhnlich, dass der Pergamon-Ausgräber Wolfgang Radt sie 1990 auf einem interdisziplinären Kongress als „latent schwachsinnig“ bezeichnete. Eben diese Formulierung war es, die den Göttinger Pathologen, Heinz-Joachim Radzun, bei Radts Vortrag aufhorchen ließ. War es möglich, fragte sich der Mediziner damals, dass die mittelalterlichen Bewohner von Pergamon vielleicht wirklich an Schwachsinn gelitten hatten?
Er stellte beim DAI einen Forschungsantrag und durfte noch im folgenden Jahr mit seinem Pathologen-Team in Pergamon anrücken. Radzun und seine Kollegen untersuchten die mittelalterlichen Knochen und die Grabbeigaben in Speziallabors und kamen zu erstaunlichen Ergebnissen.
Neben vielen neuen Erkenntnissen zur Ernährung, zu Krankheiten und zur Lebenserwartung der mittelalterlichen Bevölkerung im westlichen Kleinasien zeigte sich vor allem eines: Radzun hatte mit seiner Vermutung Recht gehabt. Alle Skelette, die in den Schichten des pergamenischen Knochenschutts gefunden worden waren, wiesen eine tödliche Dosis an Blei auf.
Die Todesursache dürfte in allen Fällen ein Saturnismus gewesen sein. Und die häufigsten Symptome einer solch akuten Bleivergiftung sind Verwirrtheit, Aggression und Krämpfe, die die Opfer ins Koma fallen lassen und schlussendlich zum multiplen Organversagen führen. Der Knochenschutt von Pergamon ist also das tragische Ergebnis einer Massenvergiftung.
Aber was mochte dazu geführt haben, dass tausende Menschen eine derart hohe Dosis an Blei zu sich nehmen konnten? Da die meisten Bleivergiftungen durch verseuchtes Trinkwasser zustande kommen, lag die Vermutung nahe, dies auch für das pergamenische Trinkwasser anzunehmen. Doch die Qualität des örtlichen Grundwassers ist bis zum heutigen Tage außerordentlich gut. Wieso sollte das im Mittelalter anders gewesen sein?
Der entscheidende Hinweis, der die Suche schließlich in eine ganz neue Richtung lenkte, kam von einem amerikanischen Byzantinisten. Der nämlich hatte in den Handschriften mittelalterlicher Baumeister die Aufforderung von Kaiser Alexios von Komnene gefunden, die antike Druckleitung von Pergamon wieder instand setzen zu lassen.
Diese antike Wasserleitung war ein Meisterwerk hellenistischer Ingenieurskunst. Das Quellwasser stammte aus den Bergen des nordwestlich gelegenen Madradaĝ-Massivs und wurde von dort über eine 45 km lange Gefälleleitung bis auf die Bergspitze geführt, die dem Burgberg von Pergamon gegenüberliegt. Von dort wurde das Wasser durch eine dreisträngige, unterirdisch verlegte Bleirohrleitung bis auf die Akropolis geführt.
Dabei funktionierte die Wasserleitung in diesem letzten Abschnitt nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren, was mitunter bedeutete, dass die Leitung in der Talsohle einem Wasserdruck von bis zu 20 bar standhalten musste! Tonrohre waren für solche Druckverhältnisse nicht geeignet. Deshalb entschieden sich die antiken Ingenieure für Bleirohre, die von tonnenschweren Steinmuffen zusammengehalten wurden.
Wie aus den mittelalterlichen Handschriften hervorging, hatte wohl ein spätantikes Erdbeben die Zisterne zerstört, in der das Wasser der Gefälleleitung gespeichert wurde, bevor es in die Druckleitung gelangte. Die byzantinischen Baumeister sollten die Zisterne wiederherstellen und die Druckleitung reparieren.
Eine archäologische Untersuchung von Zisterne und oberer Druckleitung bestätigte die Angaben der Handschrift. Der geziegelte Knick in der Druckleitung dürfte den mittelalterlichen Versuch dokumentieren, die Sache wieder zum Laufen zu bringen.
Und von diesem Moment an war die schaurige Kausalkette nicht mehr aufzuhalten. Während das frische Quellwasser, das nach dem Erdbeben nicht mehr kanalisiert war, einfach seitlich in die Berge abfloss, stand das Wasser, das sich in dem gigantischen U der Druckleitung befunden hatte, fast tausend Jahre lang in den Bleirohren.
Im Jahre 1205, als Kaiser Alexios den Befehl zur Ausführung gab, befanden sich 2.000 Kubikmeter hochgradig bleiverseuchtes Wasser in den Rohren. Als man die antike Druckleitung mit einem riesigen Festakt wieder in Betrieb nahm, wurden all diejenigen, die von den ersten 2 Millionen Litern Wasser tranken, tödlich verseucht.
Mediziner gehen davon aus, dass die Menschen noch einige Tage gelebt haben, bevor sie zu Tausenden starben. Viele derjenigen, die ihre Liebsten bestatteten, litten zu dem Zeitpunkt selbst schon an Schwachsinn und werden ihnen kurz darauf in den Tod gefolgt sein. Aktuelle Schätzungen gehen von bis zu 25.000 Todesopfern aus.