Momentcrashing am Katzentisch

Ich habe noch so eine tolle Geschichte, von der ich aber ganz genau weiß, wann sie stattfand: Nämlich im Sommer 1992. Damals befand ich mich noch mitten in meinem Archäologie-Studium, durfte aber schon zum zweiten Mal an der berühmten Pergamon-Grabung in der Westtürkei teilnehmen – ein Privileg, das nur wenigen Archäologie-Studenten zuteil wurde. Die Grabungsarbeiten begannen zwar erst am 15. Juli. Ich war jedoch schon ein paar Tage vorher nach Istanbul geflogen, um einige Recherchen in der Bibliothek des Deutschen Archäologischen Instituts anzustellen.

Nun muss man verständnishalber dazu sagen, dass das Deutsche Archäologische Institut schon immer eine Unterabteilung des Auswärtigen Amtes war und sich nicht zuletzt deswegen die Räume des strengstens bewachten Botschaftspalais im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu mit der Deutschen Botschaft teilt. Genau genommen sind es zwei unterschiedliche Ämter mit unabhängig voneinander arbeitenden Security-Teams und strikter Raumtrennung. Aber wenn eine Brandschutztür nicht als solche gekennzeichnet und zudem noch offen ist, nutzen selbst die strengsten Sicherheitsvorkehrungen nichts.

Der Anlass und Auslöser dieser Geschichte ist total banal, denn ich wollte eigentlich nur aufs Klo. Doch von der Archäologischen Bibliothek kommend habe ich mich wie gesagt in der Tür geirrt, bin im gleichen Gebäude, aber der falschen Abteilung ein Stockwerk nach oben gestolpert und dann dort aufs nächstbeste Klo geeilt. Als ich in jedem möglichen Wortsinne erleichtert wieder herauskam, traute ich meinen Augen nicht. Denn an den Wänden des unbeleuchteten Flurs, durch den ich auf meiner verzweifelten Suche nach einer Toilette geeilt war, hingen riesige Ölgemälde mit irgendwelchen Portraits.

Ich schaute mir diese Portraits etwas genauer an und erkannte an den Bildunterschriften, dass sie die Botschafter von Istanbul zeigten und zwar vom Jahr 1988 bis weit in die Vergangenheit. Ich wusste von meiner Mutter, dass der Großvater ihres Großvaters, ein gewisser Johann Anton Graf Saurma von der Jeltsch, im Jahre 1895 hier deutscher Botschafter gewesen war. Also schritt ich den Gang weiter und weiter, bis ich am Ende des Flurs angekommen war und dort eine Weile aus dem Fenster schaute. Im Hintergrund thronte die Spitze des Galata-Turmes und irgendwo dort ganz in der Nähe lag die deutsche Botschaftsschule, auf die ich in meiner Kindheit gegangen war.

Ich wandte mich wieder den Gemälden zu und schritt von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Und ganz plötzlich stand ich meinem Vorfahren quasi von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Ein unbeschreibliches Gefühl, eine Mischung aus Ehrfurcht und Bewunderung, aber irgendwie auch familiärer Nähe und Stolz. Seine Haare waren nach hinten gekämmt, der Kaiser Wilhelm-Bart über dem sonst vollen Barthaar sauber gezwirbelt. Kräftige Augenbrauen, starke Nasolabial- und kleine Lachfalten. Dazu ein streng geschlossener Anzug, wie man ihn im endenden 19. Jahrhundert trug, gesteiftes Hemd mit Knick-Kragen und dunkler Krawatte. Ein offenbar sehr selbstbewusster Mann mit charismatischer Ausstrahlung.

Ein lautes Räuspern riss mich aus meiner Betrachtung. Der Mann im Anzug vor mir fragte mich etwas ungehalten, wer ich sei und was ich hier zu suchen habe. Ich antwortete ihm lächelnd, dass ich schon immer mal ein Bild von meinem Ur-Ur-Ur-Großvater sehen wollte und zeigte auf das Ölgemälde vor mir. Der Ton des Mannes wurde etwas freundlicher, aber er fragte abermals, wer ich sei und wie ich hierher gekommen sei. Ich stellte mich vor und beschrieb den Weg von der Bibliothek zum Klo.

Der Mann erklärte mir in einem Ehrfurcht gebietenden Ton, dass ich mich aktuell auf den Fluren der Deutschen Botschaft befinde und hier eigentlich nichts zu suchen hätte. Offenbar sei ich auf meinem Weg hierher durch eine versehentlich offene Brandschutztür gelaufen und könne nur froh sein, dass diese keinen Alarm ausgelöst habe. Aber da ich nun schon mal hier und ja offenbar auch mit mindestens einem Vertreter des Auswärtigen Amtes verwandt sei, könne ich auch gleich mit ihm kommen und ihm in seinem Büro von meinem Verwandten erzählen.

Ich folgte dem Mann, der sich mir mit dem Namen Eickhoff vorgestellt hatte, in sein Arbeitszimmer. Das Büro, in das wir nun kamen, war sehr nobel eingerichtet. Ein riesiger Schreibtisch am Fenster, stilvolle Holzregale voller Bücher und Akten, ein großer Konferenztisch mit Stühlen und eine gemütliche Sitzecke mit großem Sofa, drei Sesseln und einem eleganten Beistelltisch. Herr Eickhoff bat mich Platz zu nehmen. Während er sein Jackett auszog, erzählte er, dass er früher auch Geschichte studiert habe und daher meine Leidenschaft für die Archäologie sehr gut nachvollziehen könne.

Aus der kleinen Teeküche neben dem Eingang klapperte Geschirr. Herr Eickhoff wandte sich an die Person in der Küche und meinte nur: „Bringst du bitte noch eine Tasse mehr mit? Wir haben unerwarteten Besuch.“ Ich hob die Hand, weil ich nicht wollte, dass man meinetwegen irgendwelche Umstände machte, aber Herr Eickhoff gab mir zu verstehen, dass alles in Ordnung sei. Dann forderte er mich auf, von meiner Verwandtschaft und dem Grund meines Istanbul-Besuches zu erzählen. Also begann ich beim Hoch- und Reichsadel, aus dem meine Mutter stammte, ging über zur Auslandstätigkeit meiner Eltern im Istanbul der 1970er Jahre und endete schließlich bei meinem Archäologie-Studium und der Teilnahme an der Pergamon-Grabung.

„Wolltest du nicht auch nach Bergama?“ fragte Herr Eickhoff in die Teeküche. „So war der Plan“, antwortete eine mir selstsam vertraut klingende Stimme aus dem hinteren Raum und als der Mann, dem sie gehörte, aus der Teeküche heraustrat, hätte ich mich am liebsten in Luft aufgelöst. Aus der Retrospektive betrachtet hätte ich zu gern meinen Gesichtsausdruck gesehen, denn den Mann, der da plötzlich verschwitzt, hemdsärmelig und mit Hosenträgern aus der Teeküche kam, kannte ich bis dahin nur aus dem Fernsehen. Er trug ein Tablett mit drei Tassen Kaffee, einem Milchkännchen und einer Zuckerdose zur Sitzecke und stellte es vorsichtig auf dem Beistelltisch ab. Dann wandte er sich mir zu, reichte mir die Hand und sagte nur: „Hans-Dietrich Genscher mein Name. Aber das wissen Sie vermutlich selbst.“

Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Na klar, das große Büro, der Konferenztisch, die Bilder an den Wänden und dann noch der Außenminister in Person … das war nicht das Büro eines kleinen Botschaftangestellten. Mein Gastgeber war Eckehard Eickhoff, deutscher Botschafter in Istanbul und ich saß da im T-Shirt, kurzen Hosen und Turnschuhen. Oh Gott, ich wäre am liebsten in Grund und Boden versunken. Aber die beiden Herren lachten nur und verwickelten mich in ein Gespräch über meine Kindheit in Istanbul und mein Archäologie-Studium, bei dem ich schnell all meine Scheu vergaß.

Nach fast zwei Stunden war die private Unterredung beendet und Herr Eickhoff bat mich, dem Herrn vom Sicherheitspersonal zu folgen, der gerade eingetreten war, ein grimmig dreinblickender Mensch in schwarzer Uniform. Herr Genscher klopfte mir wohlwollend auf die Schulter und sagte: „Bis bald, mein Freund. Wir sehen uns dann auf Ihrer Grabung in Bergama wieder.“

Bis bald, mein Freund … diese Worte hallten mir noch lange durch den Kopf. Bis kurz vor meinem Abitur war Hans-Dietrich Genscher Vorsitzender meiner Lieblingspartei gewesen, aber dass ich diesem charismatischen Mann einmal persönlich begegnen würde, hätte ich nie zuvor gedacht. Und zwei Monate später sollten wir uns dann ja noch einmal begegnen. Mit 18 Dienstjahren als deutscher Außenminister hielt er damals (und ich glaube bis heute) den absoluten Rekord. Auch auf der Pergamongrabung hatten wir so einen Methusalem-Fall, allerdings lag der noch etwas kurioser: Der Mann nämlich, von dem hier die Rede ist, war unser Vorarbeiter und hieß Aydın Çavuş (Hauptmann Aydın).

Das Besondere an diesem Mann war seine vor Gesundheit strotzende Kraft, die ihn Tag für Tag den mühsamen Weg aus Bergama auf den knapp 300 Meter höher liegenden Burgberg von Pergamon antreten und dort neun Stunden lang hunderte von Arbeitern leiten ließ, bevor er den langen Fußmarsch zurück in die Ebene antrat. Und das trotz seines geradezu biblischen Alters. Denn Aydın Çavuş war im Jahre 1992 sage und schreibe 95 Jahre alt!!!

Den Hauptmannstitel hatte er von Kemal Atatürk höchstpersönlich erhalten und seine Militärzeit war auch die einzige Auszeit von der Pergamongrabung. 1905 – da war Aydın Çavuş gerade mal 7 Jahre alt – begann er auf der Pergamongrabung unter der Grabungsleitung von Wilhelm Dörpfeld als Wasserträger. Von dort arbeitete er sich langsam nach oben, wurde erst Scherbenwäscher, dann Schubkarrenfahrer, dann Vermessungsassistent und schließlich Vorarbeiter.

Mit einigen Unterbrechungen stand Aydın Çavuş also fast 67 (!) Jahre lang im Dienst der Pergamon-Grabung und galt damit, sehr zum Unbehagen manches Diplomaten, als Dienstältester Mitarbeiter des deutschen Auswärtigen Amtes. Ihm und Herrn Genscher zu Ehren organisierte die Leitung der Pergamon-Grabung ein großes Fest mit opulentem Abendessen, Festreden und musikalischen Darbietungen.

Wenn man an archäologische Ausgrabungen denkt, hat man meist ein paar im Dreck wühlende Zausel im Kopf. Doch die Pergamon-Grabung ist da eine echte Ausnahme. Sie ist nicht nur eine der ältesten deutschen Unternehmungen in der Türkei, sondern auch ein Unternehmen im wirtschaftlichen Sinne. Denn sie beschäftigt insgesamt fast 1.000 Leute. Allein der deutsche Grabungsstab, der sein Quartier im traditionellen Grabungshaus von Bergama hat, umfasst knapp 60 Personen. All diese Archäologen, Architekten und sonstigen Fachspezialisten nehmen ihre täglichen Mahlzeiten an einer riesigen Tafel ein, die im Schatten von Platanen und Sonnensegeln im Zentrum des Grabungshauses steht.

Doch immer wenn die Grabung Staatsbesuch bekommt, seien es Fachkollegen anderer Nationen oder Diplomaten auf der Durchreise, dann müssen einige von der großen Tafel ihren Platz räumen und am sogenannten Katzentisch essen. Auch mich traf das Los, an diesem kleinen Tisch unter dem Weinlaub Platz nehmen zu müssen. Aber das störte mich in keinster Weise. Schließlich sah ich Aydın Çavuş jeden Tag auf der Grabung und dem anderen Staatsgast war ich ja schon einmal begegnet.

Das Fest war überaus beeindruckend und Anfang Oktober waren die Temperaturen auch so moderat, dass wir uns für das Abendessen und den feierlichen Anlass lange Hosen und ordentliche Hemden anziehen konnten. Die Sicherheitsleute des Auswärtigen Amtes waren mit zehn Wagen angerückt und machten einen Riesen-TamTam, nach dem alle neuralgischen Punkte des Grabungshauses von bewaffneten Männern gesichert wurden und das schöne Grabungshaus einer Festung glich. Erst wurden die Reden gehalten, dann das Essen aufgetischt und unsere Grabungsköche hatten sich wirklich alle Mühe gegeben. Doch dann nahmen die Dinge auf einmal eine Wendung, die mir zunehmend Unbehagen beteitete …

Oben auf dem Berg war ich neben dem Grabungsleiter und unserer Grabungsfotografin der einzige, der mit Aydın Çavuş türkisch sprach. Keine Ahnung, was die Kollegen davon abhielt, dem alten Mann wenigstens in seiner Landessprache ihren Respekt zu zeigen. Jedenfalls hatte ich schon nach wenigen Tagen herausgefunden, dass ich von Aydın Çavuş’s Erfahrung unheimlich viel lernen konnte. Oft saßen wir in der Mittagspause zusammen und unterhielten uns über Gott und die Welt.

Und offenbar stand ihm auch nach dem Festessen genau danach der Sinn. Er hatte keine Lust mehr auf das Dolmetscher-Geplänkel am großen Grabungstisch, sondern zog es vor mit uns am Katzentisch ganz gepflegt seinen Rakı zu trinken. Doch kaum war Aydın Çavuş aufgestanden und hatte sich zu uns gesetzt, stand auch Hans-Dietrich Genscher auf, nahm die Weinflasche vom großen Tisch mit, klopfte mir zur Begrüßung abermals auf die Schulter und fragte, ob er sich mit einem guten Wein zu uns setzen dürfe.

Oh-oooh! Das kam bei meinem Chef überhaupt nicht gut an. Auch wenn der restliche Abend mit meinen Kollegen, mit Aydın Çavuş und Hans-Dietrich Genscher an unserem Katzentisch noch sehr lang und lustig wurde, war da für die Grabungsleitung kein Platz mehr. Mein Chef hat mir deswegen nie Vorwürfe gemacht, aber ich habe an dem Abend seine Blicke gesehen und schon damals geahnt, wohin die Reise führen würde. Eigentlich war meine Teilnahme von 1991 bis 1993 geplant, doch aus irgendwelchen nicht weiter erläuterten Gründen gab es nach 1992 für mich auf der Pergamon-Grabung keine Verwendung mehr.

Das hat zugegeben anfangs etwas weh getan, aber schon bald darauf war es für mich völlig in Ordnung. Ich bin danach weder Aydın Çavuş noch Hans-Dietrich Genscher jemals wieder begegnet und mittlerweile sind sie beide tot. Aber in meiner Erinnerung leben sie auch in dieser persönlichen Geschichte weiter.