Cemal Reşit Rey

Wer nach diesem Namen googelt, wird etliches über meinen alten Klavierlehrer finden. Aber es gibt auch Details, die man nicht findet. Details, die es wert sind erzählt zu werden.

Cemal amca, wie ich ihn damals liebevoll nannte (Onkel Cemal) war wie gesagt ein ziemlich strenger Lehrer, aber keiner von der Sorte, die zur Wahrung ihrer Autorität laut werden oder drohen müssen. Es reichte, wenn er ganz ruhig sagte. „Das geht so nicht, Junge. Das musst du noch mal machen.“ Und ich musste vieles noch mal machen. Verdammt vieles. Aber so habe ich es schlussendlich gelernt.

Cemal Reşit Rey war ein vielbeschäftigter Mann und der Unterricht bei ihm nicht gerade billig. Dementsprechend konzentriert ging er seinen Lehrauftrag an. Doch ab und an hielt er inne, wanderte durch seinen großen, dunklen und stets nach alten Stoffen müffelnden Salon, zog irgendeine Schublade auf und holte etwas heraus, zu dem er mir eine Geschichte erzählte.

Mittlerweile weiß ich, dass er das tat, um mich abzulenken, damit sich meine innere Anspannung löste und ich wieder aufnahmebereit werden würde. Doch die Geschichten, die er mir dabei erzählte, haben mich tief beeindruckt und an einige von ihnen erinnere ich mich deshalb noch heute.

Die meisten von uns kennen in ihrer Verwandtschaft einen alten Menschen, der unter seinen Habseligkeiten einen Orden aus einem der Weltkriege aufbewahrte. Auch Cemal amca besaß solche Dinge, aber sie waren sehr viel größer als die Orden im Eckschrank meiner Großmutter.

Seine Erinnerungsstücke waren riesige Fahnen mit osmanischen Zeichen darauf, alte Säbel, Turbane und etliche gerahmte Schwarzweißfotos einer herrschaftlichen Welt. Der Hintergrund dieser Sammlung war Cemals Vater, der nämlich bis 1917 unter dem vorletzten Sultan Mehmed V. der osmanische Gouverneur von Jerusalem gewesen war.

Cemal amca wurde in Jerusalem geboren und wuchs im dortigen Gouverneurspalast auf. Aber Cemals Vater scheint kein ungehobelter Tyrann gewesen zu sein. Im Gegenteil: Zuhause wurde neben arabisch vor allem französisch gesprochen. Und als der erste Weltkrieg ausbrach, schickte ihn sein Vater in die Schweiz, wo er das berühmte Genfer Konservatorium besuchte, eine der renommiertesten Musikschulen seiner Zeit.

Cemal erzählte oft, wie schwer es gewesen sei, sich als Türke in Europa zu behaupten. „tolérance!“ wiederholte er immer und immer wieder mahnend, „Il n’y a rien de plus important entre les peuples que la tolérance.“ – Es gibt nichts wichtigeres unter den Völkern als Toleranz. Ein kluger Ansatz, den aber viele immer noch nicht verstanden haben.

1917, erzählte Cemal amca einmal, wäre all das, was hier an seiner Wohnzimmerwand hängt, in einer großen Kiste verschwunden. Nämlich an dem Tag, an dem sein Vater die militärisch unterlegene Stadt kampf- und bedingungslos an die Briten übergab. Ziel dieser Übergabe war es die heiligen Stätten und Häuser der Bewohner von Jerusalem zu schützen, statt sie bei den bevorstehenden Bombardements dem Erdboden gleichzumachen.

Als Mustafa Kemal Pascha, besser bekannt unter seinem späteren Namen Kemal Atatürk, im Oktober 1923 die türkische Republik ausrief, erkannte Cemal Reşit Rey die Chance, die neue Türkei mit jener Musik zu füllen, die er in Genf und Paris so sehr lieben gelernt hatte. Doch sein anfänglicher Weg war steinig, weil er für viele immer noch der Sohn des osmanischen Gouverneurs war, ungeachtet aller guten Charakterzüge, die sein Vater doch gehabt hatte.

Deshalb hörte Cemal amca nie auf mich zu bitten, meinen zukünftigen Weg in Toleranz zu gehen und Vorurteile, wo immer sie mir begegnen, zu hinterfragen und wenn möglich zu demaskieren. Gerade in der heutigen Zeit erinnere ich mich oft an seine Worte und denke jedesmal wie gut es gewesen wäre, wenn Cemal Reşit Rey mehr von jenen Schülern gehabt hätte, die später eine politische Laufbahn einschlugen …