
Gestern Nachmittag versank die südliche Rheinebene mal wieder in stromloser Lethargie. Viele Gemeinden zwischen Offenburg und Freiburg waren von dem mehrstündigen Stromausfall betroffen und ich fand es beklemmend zu erkennen, wie abhängig wir doch mittlerweile von einer funktionierenden Elektrizität sind.
Ohne Strom gibt es kein Licht, kein Fernsehen und kein Internet. Meist ist auch die Telefonie davon betroffen. Kühlschränke und Gefrierfächer fallen ebenso aus wie alle Küchenmaschinen, die meisten Herde und Backöfen. Ärgerlich wird es, wenn sich veraltete Garagentore nicht mehr öffnen und es kein Warmwasser mehr gibt, weil natürlich auch die Heizaggregate im Keller mit Strom betrieben werden.
Da auf meinem Smartphone plötzlich die mobilen Daten ausfielen, war ich auf dem besten Weg zurück ins Mittelalter. Ratlos ging ich auf den Balkon und sah dort etwas Erstaunliches: In fast allen Gärten meiner Nachbarschaft spielten Eltern mit ihren Kindern Ball- und Fangspiele. Klar, wenn die aussetzende Elektrizität die familiäre Rollenverteilung aushebelt, gehen die Leute raus. Vermutlich eine Mischung aus Blackbox-Verhalten und reiner Vernunft.
Ich ließ meinen Blick weiter in die Ferne schweifen und sah in vielen Wohnungen Kerzen brennen. Bruchstückhaft erinnerte ich mich an Momente meiner Istanbuler Kindheit. In den 1970er Jahren geriet die pulsierende Großstadt immer wieder an den Rand ihrer infrastrukturellen Grenzen. Strom und Wasser reichten einfach nicht für alle. Deshalb musste täglich rationiert und umverteilt werden.
Meine Eltern ließen morgens immer die Badewanne vollaufen, damit wir genügend Trinkwasser, Wasser zum Kochen und Abwaschen hatten. Für die Klospülung wurden etliche Eimer mit Wasser gefüllt und im Badezimmer deponiert. Und für die Beleuchtung hatten wir einen Riesenvorrat an Kerzen und Streichhölzern.
Ich hatte damals Klavierunterricht bei einem liebenswürdigen alten Mann in Beşiktaş, der Komponist war und trotz seines hohen Alters noch im Konzerthaus am Taksim dirigierte. Cemal Reşit Rey war sein Name und er war regelrecht besessen von der Idee, aus mir einen Konzertpianisten und exzellenten Musiker zu machen.
Letztlich bin ich weder das eine noch das andere geworden, aber wenn ich noch heute oft auf meine kalligraphisch anmutende Handschrift angesprochen werde, so ist das vor allem Onkel Cemals Verdienst. Denn sein Unterricht bestand nicht nur aus Klavier-, Gesangs- und Rhythmikübungen. Er ließ mich auch ganze Konzertpartituren abschreiben und es war nicht leicht seinen hohen Ansprüchen gerecht zu werden.
Das Piano, das meine Eltern für mich gekauft hatten, damit ich auch zuhause üben konnte, war so ein richtig altes Westernklavier. Ein Instrument, dessen Saiten diesen leicht nasalen Klang alter Kneipenklimperkästen hatten. Kunstvolle geschnitzte Weinblätter rankten um das Klavier, aber das Auffälligste waren die beiden vierarmigen Kerzenständer, die man beidseitig des Notenbretts hin und herschwenken konnte, um beim Klavierspielen im besten Licht zu sitzen. An diesen regelmäßig eintretenden Moment, in dem ich mit dem schummrigen Kerzenlicht und der Musik verschmolz und alles um mich herum einfach ausblenden konnte, erinnere ich mich noch heute so gut und intensiv als läge es erst wenige Tage zurück.
Die Hupe eines fernen Autos holte mich in die Gegenwart zurück. Die Dämmerung war mittlerweile so weit vorangeschritten, dass das Fehlen der Straßenbeleuchtung seltsam ungewohnt wirkte. Ich ging wieder rein und zündete mir ein paar Kerzen an. Mit einem zarten Hauch von Demut hatte die Erinnerung an das Licht meiner Kindheit all meine Beklemmung und Verstimmtheit ob des fehlenden Stroms besänftigt.
Und irgendwann, ganz plötzlich und ohne Vorwarnung meldete sich mit einem lauten Piepsen die Uhr vom Backofen zurück. Der Strom war wieder da.