Glück im Unglück


Wie Hadrians Arsch meinen eigenen rettete

Eine großartige Geschichte, die mir heute Morgen beim Kaffee kochen wieder eingefallen ist. Sie handelt unter anderem von einem monumentalen Marmor-Hintern des römischen Kaisers Hadrian, der im September 1990 bei Bauarbeiten nahe des Athener Olympieions zu Tage kam. Doch um die Geschichte vollends zu verstehen, muss man eigentlich gut anderthalb Jahre früher ansetzen.

Obwohl ich T2 gemustert worden war, stellte mich die Bundeswehr vom Wehrdienst frei, was mir im Endeffekt nur Recht war. denn so konnte ich gleich mit meinem Archäologie-Studium beginnen. Daraus wurde allerdings erstmal nichts, denn von meinen Anfängerkursen schlitterte ich direkt in den bundesweiten Bildungsstreik, der sich gegen die Reformen des damaligen Bildungsministers Jürgen Möllemann richtete. Der Mann gehörte zwar zur Fraktion meines Parteifavoriten, war aber (auch) in dieser Rolle eine absolute Fehlbesetzung. Entsprechend emotional wurde der Studentenstreik geführt, der mich allerdings nur periphär interessierte, weil mir die meisten vermeintlichen Probleme allzu konstruiert vorkamen.

Ist auch egal, denn irgendwann hatte sich das mit dem Streiken sowieso erledigt. Mit dem Semester dann allerdings auch, denn die Professoren meinten zu Recht, dass es keinen Sinn mehr habe, ein halbes und durch die bevorstehenden Weihnachtsferien eh zerrissenes Semester zu beginnen, geschweigedenn deren halbe Ergebnisse anschließend zu bewerten.

Also hing ich in den ersten Monaten meines Studiums ziemlich in den Seilen. Dafür lernte ich meine Archäologie-Kommilitonen von ihrer besten Seite kennen und den Zusammenhalt dieser Leute sehr bald zu schätzen. Obwohl sie die Argumentation unserer Professoren verstanden, waren sie nicht gewillt, die erzwungene Auszeit zu akzeptieren. Deshalb beschlossen wir eines Abends, einfach eine autonome Exkursion nach Griechenland zu unternehmen, die zwar nicht für unser Studium anerkannt werden, uns aber dafür direkt an die Wiege unserer Wissenschaft und sicherlich einen Riesenspaß bringen würde.

Uns wurde ziemlich schnell klar, dass offizielle Exkursionen regulär über Fördermittel verfügen, die eine solche Reise für Studierende erst bezahlbar machen. Und diese Fördermittel hatten wir natürlich nicht. Genau genommen hatte keiner von uns das Geld, um einfach so für zwei Wochen nach Griechenland zu verreisen. Womit die autonome Projektreise eigentlich schon gestorben war, bevor sie begonnen hatte. Doch ganz so schnell wollten wir uns nicht geschlagen geben und so haben wir im wahrsten Sinne des Wortes alles auf eine Karte gesetzt.

Es war klar, dass die Sache auch ganz gewaltig schief gehen konnte. Aber mit 50 DM Einsatz pro Person konnte jeder leben und der Abend im Casino wurde ebenso lustig wie spannend. Natürlich, dachten wir uns, würden die meisten von uns ihre Einsätze an dem Abend an das Casino verlieren. Aber dass alle 17 Leute gleichermaßen abloosen, wäre dann doch sehr unwahrscheinlich. Und was soll ich sagen, die Rechnung ging auf. Mit 850 DM hatten wir das Casino betreten und mit knapp 25.000 DM kamen wir nach fünf Stunden wieder raus. Was für eine Gaudi!!!

In den nächsten Tagen wurden die Flüge gebucht, was nicht ganz einfach war, denn Billigflieger gab es damals noch nicht, und wer beim Fliegen wirklich sparen wollte, musste findig sein und Umwege über den (ehemaligen) Ostblock in Kauf nehmen. So flogen wir nicht direkt nach Athen, sondern erst von Hamburg nach Warschau, dann nach Sofia und von Bulgarien schließlich nach Athen.

Die Reise war ein unglaubliches, unvergessliches Abenteuer, wobei ich heute noch lachen muss, wenn ich an die Fahrt von Olympia nach Delphi denke. Für eine Busfahrkarte reichte nämlich unsere Reisekasse nicht mehr aus, also fuhren wir mit der Bahn. Die aber war uralt und zuckelte auf Grund der stark verbogenen Gleise wirklich nur mit wenigen Stundenkilometern durch die Lande. Obwohl der Zug mit Bauern, Kindern, Hühnern und Ziegen voll besetzt war, gab es in dem überfüllten Zug keine Toilette.

Als wir die Leute fragten, was man denn bitte mache, wenn man mal müsse, bekamen wir die hilfsbereite Antwort, dass man entweder am Ende des Zuges durchs Geländer pinkeln könne oder aber, falls es doch mal etwas größeres sein sollte, einfach bis ganz nach vorne in den ersten Waggon gehen müsse, dort aussteigt, in die Landschaft macht und am Ende des Zuges wieder einsteigt. Da müsse man sich dann halt nur etwas beeilen, denn der Zug warte nicht. Aber wir seien ja jung, das würden wir schon schaffen.

Ich weiß, das klingt absolut unglaublich, war aber tatsächlich so. Und da der Zug streckenweise wirklich keine 5 Stundenkilometer schnell war, konnten die Notdürftigen nach erfolgreicher Mission tatsächlich von hinten wieder auf den Zug aufspringen, wobei es auch immer genügend helfende Hände gab. Der absolute Hammer! So etwas habe ich danach ehrlich gesagt nie wieder gesehen. Doch zurück zu unserer autonomen Exkursion.

Diese Reise hatte nämlich ein dunkles Geheimnis, das wir anfangs alle ganz cool fanden, das uns aber in den kommenden Jahren noch manche schlaflose Nacht bescherte. Obwohl wir durch unseren Casinogewinn über ein gutes Startkapital verfügten, kamen unsere Rechnungsexperten schnell zu dem Schluss, dass die zahlreichen Eintritte zu den archäologischen Ausgrabungen und Museen zu kostspielig werden würden. Also brauchten wir eine autorisierte Empfehlung, die uns freien Eintritt gewährte. Wir wussten, dass solche offiziellen Empfehlungen auf regulären Exkursionen zum Einsatz kamen. Aber woher nehmen, wenn nicht stehlen? Und damit blieb es leider nicht bei der bloßen Redewendung.

Wir fälschten das offizielle Briefpapier des Archäologischen Instituts der Universität Hamburg, Johnsallee 35 in 20148 Hamburg sowie einen der zahlreichen Insitutsstempel (mit einer rohen Kartoffel, einer scharfen Rasierklinge und etwas handwerklichem Geschick ist das ja kein Problem). Dann setzten wir unser gefaktes Empfehlungsschreiben an die oberste Ephorie der griechischen Kultusbehörde auf, unterschrieben mit Prof. Dr. Nemo (sehr geistreich) und setzten den vermeintlichen Institus-Stempel auf das Schreiben. Ich weiß nicht, wieviele Straftaten das auf einmal waren, aber ich bin mir sicher, es hätte gereicht, um uns alle zu exmatrikulieren und uns mit den rechtlichen Konsequenzen jegliche Chancen einer geregelten Zukunft zu nehmen. Gruselig! Aber es funktionierte. Wir kamen überall umsonst rein, auch wenn wir uns immer wieder neue Ausreden einfallen lassen mussten, warum unser Professor Nemo heute leider nicht dabei sein kann.

Im neuen Semester ging es dann für mich richtig los und ich warf mich mit Eifer in mein Studium. Im dritten Semester arbeitete ich bereits für meinen damaligen Professor und Mentor Hans-Georg Niemeyer als Scherbenzeichner. Dieser Mensch war einfach toll, zwar Spritti und Kettenraucher, was manchmal ziemlich unangenehm werden konnte, aber ein Vollblut-Archäologe, der mir als erster das „Denken mit den Fingern“ beibrachte, eine Fähigkeit, mit der man in der Lage ist, selbst kleinste Scherbenfragmente auf Grund der Rillen, die der Töpfer beim Anfertigen der Keramik in dem noch nassen Tonrohling hinterlassen hat, so zu zu halten, dass man sie in der gehaltenen Position quasi in den gedachten Gefäßkörper hineinschieben könnte. Das ist beim Scherbenzeichnen von großen Vorteil, weil es den Workflow angenehm beschleunigt und die Effizienz deutlich steigert.

Als Professor Niemeyer seine Exkursion nach Athen ankündigte, war es für mich keine Frage, dass ich da mitwollte. Gerade weil ich Athen ja schon von unserer ersten Exkursion kannte, aber und vor allem auch deshalb, weil ich für mein Studium zwei Exkursionen nachweisen musste und mir für diese Reise eine offiziell gültige Teilnahmebestätigung aushändigen lassen konnte.

Auch diese Reise war ein unvergessliches Erlebnis, wenn auch weitaus komfortabler und professioneller als unsere handmade excursion von 1989. Einer dieser unvergesslichen Momente spielte sich im antiken Theater von Epidauros ab, einem riesigen und fantastisch erhaltenen Bauwerk aus dem vierten Jahrhundert vor Christus. Niemeyer stand dort in der mittigen Orchestra und dozierte in seiner gewohnt lässigen Art, als eine Horde von insgesamt vier Reisegruppen die Ränge des Theaters bevölkerte und man bald sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte, geschweigedenn die Ausführungen unseres Professors.

Ich hätte damals nur die amerikanische Reisegruppe als solche identifizieren können. Doch Niemeyer wurde auf einmal sehr laut und beschwerte sich ebenso eloquent wie gebieterisch fließend auf englisch, italienisch, spanisch und französisch über die unangemessene Lautstärke. Und seine sprachlichen Wechsel waren so unglaublich fließend, dass selbst den Reiseführern, als sie Protest einlegten und Niemeyer von der französischen Tirade abrupt ins englische und italienische sprang, dort seine Pfeile verschoss und sich anschließend ohne Luft zu holen wieder dem französischen Reiseleiter zuwandte, der Atem stockte. Binnen weniger Sekunden hatte unser Prof es geschafft, knapp 100 Leute zum Schweigen zu bringen, was uns Studenten in schallendes Gelächter ausbrechen ließ, das durch die gute Akustik des Theaters peinlich laut durch die Ränge schallte.

Den vorletzten Tag unserer Niemeyer-Exkursion verbrachten wir in Athen. Am Vorabend war ein Mitarbeiter des Deutschen Archäologischen Institus zu uns ins Hotel gekommen und hatte den Chef gefragt, ob er ihm für den kommenden Morgen ein paar seiner Studenten ausleihen könne. Bei den Bauarbeiten im Olympieion sei nämlich ein riesiger Marmor-Arsch von Kaiser Hadrian zum Vorschein gekommen. Und denn wollten die DAI-Archäologen möglichst schnell fotografieren, bevor die athenischen Behörden davon Wind bekämen. Wir Studenten sollten dabei helfen das anderthalb mal anderthalb Meter große Marmorfragment zu bewegen.

Gesagt getan und an dieser Stelle schließt sich der in der Überschrift begonnene Kreis. Denn als ich am nächsten Tag zusammen mit meinen Kommilitonen fröstelnd in der noch frischen Morgenluft stand, nachdem wir den großen Marmorklotz in die richtige Position gebracht hatten, fing der DAI-Fotograf plötzlich an zu fluchen. Ihm fehlte einer der Reflektor-Schirme, mit dem sich die Lichtverhältnisse seines Motivs hätten optimieren lassen. Der Leiter dieser morgendlichen Unternehmung sagte, dass es doch ein T-Shirt auch tun würde, was der Fotograf bejahte. Und da ich der einzige mit weißem T-Shirt war, wurde ich gefragt, ob ich bereit sei, der Wissenschaft einen Riesengefallen zu tun.

Nun, erwiderte ich damals ebenso prompt wie geschäftig, eine Hand wasche bekanntlich die andere und beide das Gesicht. Es wäre mir eine Ehre für das DAI Athen zu frieren, aber ich fände es toll, wenn das auch entsprechend honoriert und ich dafür in der Publikation namentlich genannt werde. Der DAI-Mann fand, dass das ein fairer Deal sei und so buchstabierte ich ihm, während ich ob der niedrigen Temperatur ziemlich schlotternd mein weißes Oberteil so hielt, dass es die frühen Sonnenstrahlen richtig reflektierte, meinen Namen.

Als ich auf den Bindstrich in meinem Vornamen bestand, stutzte der Mann und schaute mich ungläubig an. Ob es sein könne, fragte er mich etwas bedrohlich und legte dabei seinen Kopf leicht zur Seite, dass ich vor etwa einem Jahr an einer nicht legitimierten Griechenland-Exkursion der Universität Hamburg teilgenommen habe. Denn mein Name komme ihm irgendwie bekannt vor. Da ich ihn nur unverwandt ansah, fuhr er fort, dass es deswegen ziemlichen Ärger zwischen der Ephorie und den deutschen Behörden gegeben habe. Er sagte, es gebe da eine Blacklist, die alle darin namentlich Genannten todsicher von jeglicher Anstellung im DAI auschlössen. Und da alle Teilnehmer dieser Unternehmung von damals auf dieser Liste stehen, könnten wir uns vielleicht anders einigen: Er würde mich in seiner Publikation nicht erwähnen, dafür aber meinen Namen von der Blacklist streichen.

Es grenzte fast an ein Wunder, dass sich der Fotograf nicht über den plötzlichen Rotstich beschwerte, denn mir war die Sache so megapeinlich, dass ich vor Scham am liebsten im Erdboden versunken wäre. Aber der Mann vom DAI hat offenbar Wort gehalten. Denn später habe ich Jahrelang für das Deutsche Archäologische Institut gearbeitet, ohne dass diese Sache jemals wieder zur Sprache kam. Von meinen Hamburger Kommilitonen hingegen ist schlussendlich kein anderer in der Archäologie gelandet. Was für Gründe auch immer das gehabt haben mag …