Mit Vollgas durchs Wadi Rum


Wer kennt das nicht? Man genießt seinen Urlaub und schießt dabei das eine oder andere Foto, um einen schönen Ort oder Moment einzufangen. Wieder zu Hause angekommen sind die Eindrücke noch frisch und man kann sich mühelos an alle Details erinnern. Mit der Zeit aber verblasst die Erinnerung und man weiß nicht einmal mehr, wann man dort war. Durch das Jahrelang wiederholte Anschauen von Dias, Filmen und Fotoalben indes werden die visuellen Eindrücke ständig wiederholt, durch Gespräche gefestigt und in der Erinnerung wie eine Perlenkette aneinandergereiht. Auf diese Weise ist man später sogar in der wundersamen Lage, sich an Ereignisse zu erinnern, bei denen man gar nicht anwesend war.

So ähnlich geht mir das mit den meisten meiner Urlaubserinnerungen aus meiner Istanbuler Kindheit. Wenn ich an den damals noch ebenso brandneuen wie schicken VW Variant Kombi meiner Eltern denke, habe ich keine Erinnerung an das Interieur des Fonds. Ich könnte weder sagen, aus welchem Stoff die hinteren Sitze waren noch welche Farbe sie hatten. Dabei habe ich in diesem Wagen ungelogen zehntausende von Kilometern gesessen. Aber wenn ich an die Wüstenstraßen in Syrien oder Jordanien zurückdenke, über die wir von Damaskus bis nach Akaba gefahren sind, dann erinnere ich mich sogar noch an den Geruch des Wüstenstaubs.

Es war eine der abenteuerlichsten Reisen, die meine Eltern mit meinem Bruder und mir unternommen haben. Und wenn ich an die spätere Schreckensherrschaft des IS, an die Greuel des Assad-Regimes, den syrischen Krieg und die damit verbundenen Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes denke, auch eine sehr wertvolle Erfahrung. Zusammen mit zwei anderen deutschen Familien waren wir im Spätsommer 1977 von Istanbul aufgebrochen.

Zunächst fuhren wir in die anatolische Hochebene Richtung Ankara und von dort den Taurus wieder hinunter bis nach Adana. Dann weiter nach Iskenderun und über die syrische Grenze nach Aleppo. Von dort über Homs und Damaskus nach Amman in Jordanien und dann immer weiter nach Südwesten, bis die Wüste im Roten Meer zu versinken scheint. 2.000 km hin und 2.000 km wieder zurück. In einem Auto ohne Klimaanlage und ohne Gurte auf den hinteren Sitzen.

An das Rennen, das mein Vater mit seinen beiden Freunden auf den Schotterpisten der Al-Badiyah gefahren ist, kann ich mich nicht erinnern. Sehr wohl aber an die Angst meiner Mutter, dass das Auto bei den Bodenwellen einen Achsenbruch erleiden könnte und wir dann mitten in der syrischen Wüste säßen, allein und hunderte Kilometer vom nächsten Telefon entfernt. Komischerweise erinnere ich mich auch an die Steinkegel, die als Orientierungshilfe im Abstand von 100 Metern am Wegesrand standen.

Ich erinnere mich an meine Freude, als wir mal einen Tag lang nicht Auto fuhren, sondern notgedrungen in einem kleinen Wüstenort pausieren mussten, weil es wie aus Kübeln regnete. Und ich erinnere mich an den unbeschreiblich schönen Anblick, als die Wüste am nächsten Tag zu einer einzigen Blumenwiese geworden war. Ich erinnere die geschäftigen Basare in Aleppo, die ähnlich und doch ganz anders waren als die Basare, die ich aus Istanbul kannte. Ich erinnere die großen Wasserräder von Homs und die beeindruckende Festungsanlage von Kraq de Chevalliers, die antiken Wüstenstädte Gerasa und Petra, das eigentümliche Baden im Toten Meer und den unglaublich feinen Sand am Strand von Akaba.

Im Wadi Rum haben wir einen Halbtagesritt auf Kamelen gemacht, um irgendeinen Scheich in seinem Wüstenzelt zu besuchen. Meine Eltern sprachen ein paar Brocken Arabisch, aber die Hauptkommunikation lief auf Französisch. Vor ein paar Jahren erzählten mir einige meiner alten Istanbuler Klassenkameraden, dass auch sie diese Reise nach Akaba mit ihren Eltern gemacht hätten, ja, dass diese Tour in der deutschen Kolonie von Istanbul geradezu eine Legende gewesen sei.

Seit dieser Reise weiß ich, dass Al-Badiyah für die große, von Beduinenstämmen bewohnte syrische Wüste südlich des Euphrats steht, während Al-Dschasira die fruchtbare Ebene nördlich des Euphrats bezeichnet. Es hat allerdings eine Weile gebraucht, bis meine Kinderseele kapiert hatte, dass solche Reisen weder üblich noch von Interesse waren. In der Welt, in die wir aus Istanbul 1980 wieder zurückkehrten, fuhr man im Sommerurlaub nach Malle, nach Sylt oder in den Robinsonclub nach Kreta. Für den Orient war da kein Platz. Es reichte offenbar schon, wenn man ihn in Hamburgs Sozialwohnungen quasi vor der Tür hatte.