Briefe aus dem Orient


Der Vortrag von Hasan Cobanli, den ich mir Ende letzter Woche in München angehört habe, hat in mir eine ganze Welle von Erinnerungen ausgelöst. Unter anderem an ein monströses Geschehen, das seit dem 1. Mai 1977 unter dem Namen Taksim Massaker in die Geschichte einging und sich in einer Woche zum 46. Mal jährt. Bei diesem feigen Anschlag kamen in Istanbul 34 Menschen ums Leben, 134 wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt, als mehrere Attentäter aus Hochhäusern mit Automatikwaffen in die Menge feuerten. Auch meine Eltern verloren an diesem Tag auf dem Taksim-Platz Freunde, was meinen Vater eine Woche später dazu veranlasste, einen Brief an seine Eltern zu schreiben, in dem er seine Sorgen um die politischen Entwicklungen äußerte:

„Es steigert sich das Wahlkampffieber in der großen (linksregierten) Stadt in einem unguten Maß. Von den Schießereien auf dem Taksim-Platz (mit offiziell 34 Toten) werdet Ihr genug gehört haben. In internen Erklärungen heißt es: die „Maoisten“, identifizierbar an ihren blauen Kitteln, waren in Wahrheit verkleidete Rechtsextreme. Grund ihres Anschlages: Die Staatsgewalt zur Verhängung des Ausnahmezustandes zu drängen. Denn dann hätte man a) die Wahl auf einen günstigeren, späteren Zeitpunkt verschoben (für die Demirel-Erbakan-Türkesch-Koalition ist im Augenblick eh nicht viel drin) und b) hätte man die Möglichkeit, über das Militär (das zu 40-70% extrem rechts orientierte Offiziere haben soll), direkt ans Ziel der Machtübernahme zu gelangen.

Eine andere, nicht minder bösartige Erklärung sieht das wahre Motiv für die scheinbar unmotivierten Gewalttaten (Erschießung von Passanten aus dem fahrenden Auto heraus, Bombenanschläge) in einer Lähmung der Öffentlichkeit durch allgegenwärtigen Terror. Auf dem so vorbereiteten Instrument ließe sich dann am Wahltag gut spielen. Man droht indirekt mit Gewalttaten, indem man scheinbar vor ihnen warnt – und so ganz simpel die Leute in den Häusern hält. Bei geringer Wahlbeteiligung bleiben die Unentschlossenen zu Hause – und gerade sie könnten überhaupt noch etwas an der augenblicklichen Konstellation ändern.

Unsere türkischen Freunde sehen mit leiser Resignation das durchaus Ungesunde an dieser Entwicklung, aber der Trend ist im Augenblick wohl nicht aufhaltbar. Und die politische Gespanntheit findet dann wohl auch leicht Sündenböcke, wie jetzt das zahlungsunwillige Ausland, das die Kredite auf ungedeckte Wechsel gesperrt und damit „eindeutig türkenfeindlich reagiert“ hat.

Noch spüren wir als Ausländern keine Ressentiments – und der Spuk ist wohl auch im Juni vorüber. Wenn es bis dahin den Rechten nicht gelingt, Ecevit zu ermorden, wird der Bürgerkrieg a la Beirut wohl zu vermeiden sein.“

Nur wenige Wochen später wurde am Flughafen Izmir tatsächlich ein Mordanschlag auf Bülent Ecevit verübt. Ein in Quecksilber getränktes Projektil, abgefeuert aus einer Spezialwaffe einer Sondereinheit des türkischen Militärs verfehlte Ecevit und traf einen seiner Begleiter. Das Opfer starb wenige Stunden, nachdem das Quecksilber in seine Blutbahn gelangt war. Der Attentäter, ein Polizist, wurde gefasst, aber nie angeklagt …

In seinem Vortrag berichtete Hasan Cobanli von einigen brandaktuellen und ähnlich mysteriös-anrüchigen Geschichten. Von denen gibt es aber in der türkischen Politik und Gesellschaft der letzten 80 Jahre so dermaßen viele Beispiele, dass ihr sich ständig wiederholender Kern womöglich systemimmanent ist. Und sollte das der Fall sein, dann iyi geceler, sevgili ikinci evim!