primum esse, tum philosophari


primum esse, tum philosophari … Erst sein, dann philosophieren! Dieser berühmte Ausspruch des römischen Philosophen Seneca hat mich schon in meiner Schulzeit überzeugt: Denn primum esse, tum philosophari heißt sowohl, dass man sich, wenn man keine Ahnung hat, lieber zurückhalten sollte, alsauch dass man sich der Philosophie und den schöngeistigen Dingen des Lebens erst zuwenden sollte, wenn man in der Lage ist, finanziell auf eigenen Füßen zu stehen.

Darum geht es auch in dem Abschnitt aus Senecas VI. Buch, den ich heute morgen zum Frühstück las: „a gestatione cum maxime venio non minus fatigatus, quam si tantum ambulassem, quantum sedi. Labor est enim et diu ferri, ac nescio an eo maior, quia contra naturam est, quae pedes dedit, ut per nos ambularemus, oculos, ut per nos videremus. debilitatem nobis indixere deliciae, et quod diu noluimus, posse desimus.“ *)

Soeben„, beginnt Seneca diesen Absatz, „komme ich von einem Ausflug mit der Sänfte zurück und fühle mich nicht weniger ermüdet als wäre ich so viel gelaufen wie ich gesessen habe. Es ist nämlich auch anstrengend, so lange getragen zu werden. Wer weiß, vielleicht weil es gegen die Natur ist, die [uns] Füße gegeben hat, damit wir laufen und Augen, damit wir selbst [auf den Weg] schauen. Die Dekadenz offenbart uns unsere Schwächen und was wir lange nicht [tun] wollten, haben wir aufgehört zu können.“)

Herrlich und so wahr! Kein Wunder, dass ich bei der Lektüre sofort an meinen Lieblingsspruch dachte. Und plötzlich fiel es mir wieder ein: Mein Archäologen-Team hatte mir damals zum Abschied so einen Metallknipser geschenkt, mit dem man Seiten selbst gravieren kann. Und weil ich ihnen immer mit Seneca auf die Nerven ging, haben sie mir sein „primum esse, tum philosophari“ in das Gravurnegativ geprägt. Voilà.

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*) P.S. Dieser Zusatz interessiert wahrscheinlich nur noch 0,0001% meiner Leser 😂, aber vielleicht ist ja doch ein Lateinkundiger dabei, der über die Formen ambulassem, indixere oder desimus gestolpert ist. Ein Teil dieser grammatisch merkwürdigen Formen rührt daher, dass die Römer eben doch ein anderes Latein sprachen als die erst im Humanismus entwickelte Sprache, die an unseren Schulen gelehrt wird. Zum anderen sind es oft auch Schreibfehler, die in den Bibliotheken der mittelalterlichen Klöstern entstanden sind. Aus diesem Grund ist es bei der Seneca-Lektüre unerlässlich eine Ausgabe mit kritischem Kommentar zu lesen – das ist das Kleingedruckte unter dem lateinischen Text. In diesen Kommentaren findet man alternative Lesarten, hilfreiche Anregungen sowie die Quellen der mittelalterlichen Handschriften.