

Jeder kennt diese Anlässe, die in einem irgendetwas triggern. Bei mir war es heute morgen ein Facebook-Kommentar zu einer Gipsabguss-Sammlung in München. Denn sofort saß ich in Gedanken wieder mit Stift und Zeichenblock vor den Plastiken und versuchte zu verstehen, was uns unser Archäologie-Professor immer predigte, nämlich dass man den Aufbau und das Konzept einer Plastik, einer Vase oder eines Gebäudes erst dann verständlich beschreiben könne, wenn man sie gezeichnet und durch das Zeichnen innerlich verstanden hat. Es hat eine Weile gedauert, bis meine Zeichnungen auch nur eine vage Ähnlichkeit mit dem Original hatten. Doch im Laufe dieses Prozesses habe ich den Sinn der Übung verstanden. Man setzt sich beim Zeichnen mit viel mehr scheinbar unwichtigen Details auseinander. Details, die sich manchmal überraschend doch als überaus wichtig herausstellen.
Von den Studentenskizzen schweiften meine Erinnerungen zu den vielen Erdprofilen, die ich im Laufe meiner archäologischen Tätigkeit gezeichnet habe. Schicht für Schicht, Stein für Stein, Mauer für Mauer. Und auch bei den Erdprofilen gibt es bestimmte Muster: Wiederkehrende Erscheinungsformen, überwiegend den Regeln von Korrosion und Schwerkraft geschuldet, aber z.T. auch menschlichen Gewohnheiten. Einer meiner früheren Professoren nannte dieses routinierte Abgreifen bestimmter Informationen aus den Erdprofilen immer „mit den Fingern denken“. Ich muss heute noch lachen, wenn ich an meine türkischen Arbeiter von der Miletgrabung denke, die sich einer nach dem anderen am Schnittrand niederließen und fasziniert auf meine Zeichnungen starrten, bis ich mich umdrehte und sie wie ein Schwarm Schmeißfliegen auseinanderstoben, um wieder an ihre Arbeit zu gehen.
Mein Vorname enthält zwei Konsonantenfolgen, die für einen Türken nur schwer auszusprechen sind, nämlich das FR in Frank und RN in Arne. Da sie mich also immer Firank Arane nannten, habe ich sie irgendwann gebeten, mich in der wortwörtlichen Übersetzung von Frank zu rufen: Dem türkischen Namen Kemal. Schnell fand ich heraus, dass die Umsetzung meiner Anweisungen sehr viel zuverlässiger geschah, wenn ich mich mit den Arbeitern ab und zu auch ganz privat unterhielt. So erfuhr ich, dass fast alle meine Arbeiter Olivenbauern aus dem Nachbardorf Batiköy waren, die den Job auf der deutschen Grabung angenommen haben, weil die Olivenernte letztes Jahr so schlecht gewesen sei.
Eines Tages fanden wir in einem Kontrollschnitt nahe dem antiken Theater einen Inschriftenstein mit dem abgebrochenen Teil einer Ehreninschrift. Und da beobachtete ich bei meinen Arbeitern etwas sehr interessantes: Nämlich den schnellen Wechsel von Interesse, Frust und Desinteresse in eben dieser Reihenfolge. Das gleiche Phänomen hatte ich zuvor schon mehrfach bei türkischen Schülern erlebt, die von ihren Lehrern durch die Ruinen geführt wurden, in denen es natürlich viele dieser Inschriftensteine gibt. Also fragte ich meine Arbeiter ganz direkt, was sie von unserem Inschriftenstein hielten. Und sie antworteten: „Bestimmt interessant, wenn man wüsste, was draufsteht. Aber wir können das nicht lesen.“
Meine Wahrnehmung hatte mich also nicht betrogen, was auch den Frust der Schülergruppen verständlich machte, denn ich kenne kaum einen Schüler, dessen Wissensdurst sich nicht anregen lässt, wenn man es pädagogisch richtig angeht.
Ich fragte meine Arbeiter, ob es sie denn interessieren würde, was auf diesen Steinen draufsteht … und hatte auf einmal die volle Aufmerksamkeit aller 33 Olivenbauern. Also blieben wir fortan jeden Nachmittag eine gute halbe Stunde länger im Ruinengelände und ich brachte den Männern ein paar Brocken Altgriechisch bei. Ich hatte meinen Inschriften-Unterricht in den Schatten der alten Theatermauern gelegt und da wir keine Tafel hatten, ritzte ich die Buchstaben mit einem Stock in den staubigen Boden. Die Männer saßen im Kreis um mich herum und waren so wissbegierig und begeisterungsfähig, dass es mir oft vorkam als wäre ich der Geschichtenonkel auf einem Kindergeburtstag.
Griechische Inschriften bestehen zu 90% aus Formeln, die man einfach lernen kann und dann auf dem Inschriftenträger nur noch erkennen muss. Entscheidender ist, welche Informationen und sozialen Chiffren sich hinter diesen Formeln verstecken, wie sie angeordnet sind und welche womöglich fehlen. Nach zehn Tagen jedoch bekam mein Chef Wind von der Sache und hat mir barsch jeglichen weiteren Unterricht untersagt. Angeblich würde das den Respekt der deutschen Schnittleiter und Vorarbeiter untergraben. Bullshit! Aber egal, ich musste akzeptieren.
Das Ende der Grabungskampagne war etwas turbulent, das Abschiedsgeschenk, das mir meine Arbeiter am letzten Grabungstag überreichten, dafür umso schöner. Eine etwa ein Meter große Holztafel mit grob gezimmertem Sockel und Giebelschmuck, auf der sie eine sprachlich ebenso originelle wie humorvolle griechische Inschrift aufgemalt hatten. Hier die Übersetzung …
Mit gutem Glück
(Wir) der Rat und das Volk
von Batiköy ehr-
ten unseren Kemal,
den Freund und Lehrer
seiner Olivenbauern.