







In unserer Kindheit haben wir Tage, Wochen, Monate auf See verbracht. Fast jede Schulferien haben wir auf dem Wasser verbracht und die Segelyacht meiner Eltern vom Heimathafen Schleswig durch halb Skandinavien und wieder zurück gesegelt. Als mein Bruder und ich größer wurden, kauften uns unsere Eltern einen Opti, der entweder im Schlepptau oder auf dem Vorschiff vertäut mitsegelte und uns in den Häfen ein bisschen mehr Freiheit verschaffte.
Einer der schönsten Häfen, an die ich mich erinnern kann, ist der kleine Lotsenhafen von Schleimünde. Die dortige Marina fasst keine 50 Schiffe, hat einen kleinen Hafenstrand und eine Kilometerlange Strandlinie, die allerdings an das Vogelschutzgebiet grenzt und daher eigentlich nur vom Hafen in Schleimünde aus erreichbar ist. Wenn man sich also abends noch an den Strand setzte, war man dort fast immer allein.
Alle Schiffe meiner Eltern trugen den Namen „Sirtaki“, ein alter Gag, weil das erste Boot meiner Oldies so miserable Segeleigenschaften hatte, dass es wie bei dem griechischen Tanz zwei Schritte vor und einen zurück segelte. Aber segeln und tanzen scheinen sich auszuschließen, jedenfalls trugen die meisten Hafenmeister unseren Kahn als „Sir Taki (Sör Täcki)“ ein.
Eines Sonntagmorgens erwachten unsere Eltern mit einem fürchterlichen Kater, weil sie in geselliger Runde ein paar Gläser Retsina zu viel getrunken hatten und sich weigerten, aufzustehen. Aber mein Bruder und ich hatten keine Lust zu warten und so haben wir uns einfach Stullen geschmiert und zwei Flaschen Wasser mitgenommen, den Opti klargemacht und sind mit Schwimmwesten Richtung Schleswig aufgebrochen. Unseren Eltern hatten wir natürlich vorher noch Bescheid gesagt und ihnen vorsichtshalber eine Notiz auf den Tisch mit den Seekarten gelegt.
Der Wind stand günstig und blies mit leichter Brise aus Nordnordost. Von Schleimünde bis zu unserem Heimathafen in Schleswig sind es 22 Seemeilen, also knapp 40 km. Für eine Nussschale wie unseren Opti ist das eine halbe Weltreise! Auf dem Weg durch die zahlreichen Windungen der Schlei muss man zwei Brücken passieren: Die alte Drehbrücke von Kappeln und die Klappbrücke von Lindaunis. Und wir rechneten fest damit, dass uns unsere Eltern spätestens in Kappeln einholen würden. Doch als wir vor der historischen Drehbrücke ankamen, war vom markanten Segel der Sirtaki noch nichts zu sehen. Also segelten wir einfach unter der Brücke durch Richtung Arnis.
Schon für ein großes Kind ist der Opti ein relativ kleines Boot, für zwei junge Kerle von damals 1,80 m Körperlänge ist das eigentlich ein No-Go. Aber wir hatten uns beidseitig des Schwertkastens lang gemacht, die Köpfe auf Kissenfendern platziert, die Beine angewinkelt oder mit den Füßen über die Reling hängend. Bei dieser Beladung war es auch ziemlich egal, aus welcher Richtung der Wind wehte. Solange er nicht aufbrisen würde, lagen wir stabil im Wasser und hatten Spaß ohne Ende.
Als wir unter der hohen Stromleitung durchsegelten und schon die Eisenbahnbrücke von Lindaunis sahen, wurden wir etwas unruhig, weil vom blauen Segel der Sirtaki noch immer jede Spur fehlte. Doch wir entschieden uns, weiterzusegeln. Unsere Eltern wussten ja, wo wir waren. Und tatsächlich, sie wussten es nicht nur, sie waren sogar ziemlich dicht hinter uns, nur fuhren sie ganz gegen ihre Gewohnheit nicht den blauen Blister, sondern die weiße Genua, um sich aus der Ferne nicht zu verraten.
Unser Vater war von unserem Tatendrang begeistert und nahm die Nummer seiner Söhne gelassener als unsere Mutter, die alle viertel Stunde ängstlich durchs Fernglas spähte, ob das bunte Segel unseres Optis noch zu sehen war. Aber es war wohl auch ihm ein Bedürfnis, immerhin so dicht hinter uns zu kreuzen, dass er im Notfall den Motor starten und uns schnell zu Hilfe eilen konnte, sollten wir wider Erwarten in Seenot geraten. Hinter den beiden Brücken, die nur alle anderthalb Stunden öffnen und die von beiden Richtungen kommenden Schiffe durchlassen, hatten wir natürlich immer einen guten Vorsprung, denn dem 2,50 hohen Opti sind die vier Meter Brückendurchfahrtshöhe egal und so konnten wir unter beiden Brücken hindurch und an den neidischen Blicken der zum Warten verurteilten Skipper einfach vorbeirauschen.
Erst kurz vor Luisenlund wurden wir von den Eltern überholt, die voll des Lobes waren und uns offerierten, dass wir nun auch noch den Rest durchsegeln könnten. Sie würden schon mal vorfahren und Klarschiff machen, damit wir dann bald nach unserer Ankunft wieder gen Hamburg aufbrechen könnten. Nach fast sieben Stunden zwischen den wunderschönen Schleiufern, etlichen guten Gesprächen unter Brüdern, langen Zeiten einvernehmlichen Schweigens erreichten wir den Segelclub unserer Eltern. Wir fierten die Schot auf, rauschten mit achterlichem Wind durch die vollen Stege der Marina bis zum Bootshaus, sprangen ans Ufer und trugen den Opti in die Bootshalle.
Mein Bruder und ich waren so stolz auf uns, dass wir die kommenden drei Tage kaum durch einen Türrahmen passten und unsere Eltern waren so verständnisvoll, dass sie uns die Illusion der vollendeten Selbständigkeit ließen. Erst viele Jahre später erzählten sie uns mit einem liebevollen Schmunzeln, wie wichtig ihnen diese Lektion war: die Lektion der Entdeckung des Machbaren, den Mut eigenständige Entscheidungen zu treffen und dadurch die Grenzen der eigenen Belastbarkeit herauszufinden. Stark.