sapientia tyranni

Praec. Joh. Wolfgang Hagenmeyer, mein früherer Griechischlehrer, war ein geradezu orthodoxer Chauvinist, doch in einem Punkt sollte er Recht behalten: Sappho von Lesbos, predigte er uns in seinem Unterricht, war eine der schillerndsten und von ihren männlichen Neidern meist verunglimpften Persönlichkeiten des beginnenden 7. Jahrhunderts vor Christus. Die meisten kennen sie heute als lesbische Dichterin der archaischen Lyrik, doch sie war vielmehr als nur das.

Sappho war auch Leiterin einer Etiketten- und Haushaltsschule sowie liebevolle Ausbilderin ihrer Schutzbefohlenen: Töchter aus gutem Haus, die bei ihr den gebildeten und distinguierten Umgang, aber auch alles andere lernten, von dem man glaubte, dass es eine gute Ehefrau können müsse. Dazu gehörte sicherlich auch der intime Umgang, doch würde man Sappho nicht gerecht werden, wenn man ihr Wirken einzig auf den homosexuellen Bereich reduziert.

Ich werde Euch zwei von Sapphos Liebesgedichten geben, dozierte Haggi damals, und Ihr werdet sie auswendig lernen. Denn glaubt mir: Wenn Ihr das Herz einer Frau erobern wollt, sind Sapphos schöne Worte ein guter Schlüssel!

Wahrscheinlich ist das der Grund, weswegen ich die beiden Gedichte nie vergessen habe. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich mehr als einmal erfahren durfte, wie richtig der alte Mann mit seiner Einschätzung lag. Denn Eichendorff oder Hemingway kann jeder Depp zitieren. Aber ein Liebesgedicht von Sappho … 🥰

Οι μεν ιππέων στρότον
οι δε πέσδαι
οι δε ναων φαισ‘
επι γαν μελαίναν
έμμεναι κάλλιστον.
Εγώ δε κήν,
οττώ τις ερράται.

Die Einen sagen: Die Kavallerie,
die Anderen die Infanterie,
die Dritten schließlich die Marine
sei das Schönste
auf der schwarzen Erde.
Ich aber sage: Das Schönste ist
der Mensch, den man liebt!

Οιον το γλυκύμαλον
ερευθεται άκρον επ‘ ύσδω,
άκρον επ‘ ακροτάτω
λελαθοντο δέ μαλοδροπήες.
Όυ μαν εκλελάθοντ‘,
αλλ‘ ουκ εδύναντ‘ επικέσθαι.

Du bist wie der süße Apfel,
der oben im Baume hängt,
oben, ganz oben, wo ihn die
Apfelpflücker vergessen haben.
Vergessen??? Von wegen! Sie
konnten ihn nur nicht erreichen.