


Wenn ich an den Sommer 1993 zurückdenke, muss ich immer wieder schmunzeln. Ich wohnte damals in einem kleinen Hotel von Selçuk gegenüber der berühmten Johannesbasilika. Einige Reisegruppen hatte ich bereits durch Ephesos und die Westtürkei geführt, nun wartete ich noch auf die letzten Gäste, die von meinem ehemaligen Chemie-Lehrer angeführt wurden, der sich damit ein zweites Standbein aufgebaut hatte. Und während die Tage verstrichen, schaute ich immer mal wieder im Grabungshaus der österreichischen Archäologen vorbei, die in Ephesus forschten und machten den Archäologinnen schöne Augen, bis es eines Abends an meiner Hoteltür donnerte und ich vor einem völlig aufgebrachten Professor Anton Bammer stand. Herr Bammer war nicht nur der illustre österreichische Chefausgräber des Artemis-Tempels von Ephesos, sondern auch ein ziemlich verrufener Schürzenjäger, obwohl nur gerade mal 1,72 m groß und der stand also vor meiner Hoteltür und schrie mich an, was ich mir eigentlich einbilde, seine ganzen Assistentinnen zu „verramschen“. Nun muss ich zu meiner Verteidigung sagen, dass ich noch nie jemanden „verramscht“ habe. Umgarnt, verführt und die Beziehung vorzeitig beendet, okay, aber nicht verramscht! Außerdem stand der Meister der Verführung ja direkt vor mir und so konnte ich nicht anders, auch wenn mir das besser zu Gesicht gestanden hätte, als laut loszulachen. Herr Bammer überlegte kurz, wie er auf meine respektlose Reaktion antworten sollte und entschied sich für ein verschmitzes Grinsen: „Bittschehn, Herr Knoth, lassens doch einfach die Finger von meinen Assistentinnen, do wär i Ihnen wirkli donkboar!“ Und dann lachte er laut, zog mich aus dem Zimmer und führte mich in eine der kleinen Schenken am Fuße des byzantinischen Aquädukts, wo wir bei einer Flasche Wein in die Wörter kamen.
Ein paar Tage später saß ich in einem sehr touristischen Stadtviertel von Selçuk und trank ein kühles Bier, als mich ein paar Türken auf Englisch anquatschten, ob ich neu in der Stadt sei. Ich wollte schon auf Türkisch antworten, entschied mich aber dagegen und so parlierten wir einfach weiterhin auf englisch. Als sie mir für einen Wucherpreis anboten, mir die Ruinen von Ephesos zu zeigen, lehnte ich dankend und mit dem Hinweis ab, dass ich selbst Archäologe sei. Die drei wechselten einen spontanen Blick und fragten mich, ob ich ihnen ein paar Antiken bestimmen könnte, die sie sich kürzlich gekauft hätten, weil sie sich nicht sicher seien, ob die Stücke echt seien. Ich dachte mir nichts dabei und willigte ein, zumal der bisherige Austausch sehr locker und sympathisch gewesen war. Sie luden mich ein und zahlten meinen Deckel, dann forderten sie mich auf ihnen zu ihrem Wagen zu folgen.
Gewisse Dinge merkt man ja immer erst hinterher. Wenn ich schon zu dem Zeitpunkt geahnt hätte, mit wem ich mich da eingelassen hätte, wäre mir vielleicht aufgefallen, dass die Leute alle katzbuckelig Platz machten, dass uns keiner in die Quere kam oder auch nur nachschaute. Auch als wir vier im Wagen bis ganz auf die Hügelspitzen von Selçuk fuhren und das Ziel eigentlich nur noch die pompöse weiße Luxusvilla sein konnte, von der jeder Türke in Selçuk nur hinter vorgehaltener Hand spricht, schöpfte ich keinen Verdacht. Den ersten Zweifel, ob hier alles mit rechten Dingen zuging, bekam ich erst, als ich sah, wieviel Security meine Gastgeber auf ihrem Grundstück hatten. Überall liefen Männer mit Holstern unter dem Jackett herum, die Wachen vorn am Tor trugen sogar Maschinengewehre … Und da waren wir auch schon. Ein Luxus-Anwesen, wie ich es bis dato noch nie gesehen hatte! Der Blick reichte locker bis nach Ephesos, durch die Wipfel der Pinien wehte eine angenehme Brise und alles wirkte modern und aufgeräumt.
Doch man ließ mir keine Zeit zum Träumen. Ich wurde gleich ins Haus gebeten und dort dann auch unverblümt direkt in eine Galerie aus acht antiken Kaiserköpfen geführt, die auf stilvollen Holzklötzen standen und unverkennbar aus Raubgrabungen stammen mussten. Bei zwei Marmorportraits erkannte ich sofort, dass es Fälschungen sein mussten, bei zwei anderen war ich mir nicht sicher und die vier restlichen waren definitiv echt. Als ich diese Einschätzung preisgab, klatschten und pfiffen die drei Türken begeistert und riefen mich, ich solle mich zu ihnen aufs Sofa setzen. Das Wohnzimmer war ein riesiger und sehr modern eingerichteter, rundum verglaster Raum mit einem großen Glastisch in der Mitte. What do you want to drink, Frank? Ich entschied mich für eine Cola, aber man stellte mir noch ein Bier hin. Und dann ging’s zur Sache, denn dann ließen sie ihre Masken fallen.
Der eine war Mustafa Pıçak – Mustafa, das Messer – der den Ruf hatte, seine Prostituierten ebenso zur Raison zu bringen. Der zweite handelte mit Drogen und Glücksspiel und kontrollierte alle Casinos zwischen Selçuk und Bodrum und der dritte – der Mann, dem das Haus gehörte – hatte sich mit Raubgrabungen auf dem Antiken-Schwarzmarkt einen Namen gemacht. Und jetzt spielte ihren das Glück also einen jungen Archäologen in die Hände, der auf Anhieb die Fälschungen von den Originalen unterscheiden kann und auch gleich merkt, an welchen Stellen es gehörige Fragezeichen gibt. Kurzum, sie wollten mich einstellen und waren bereit, sehr, sehr gut zu zahlen. Ich bedankte mich höflich und sagte so naiv lächelnd wie möglich, dass ich ihre Begeisterung gut verstehen könne, dass ich aber lieber bei meiner sauberen Archäologie bleiben und forschen wollen würde.
Sie grinsten und nickten zustimmend. Dann reichte mir einer unaufgefordert ein zweites Bier und murmelte dabei „Bu Adam sorun haline geliyor“ (Der Mann wird zum Problem.) – „Ah, boş ver!“, hörte ich Mustafa Pıçak murmeld erwidern, „onu ortadan kaldıracağız. Kuşadası yakınlarındaki kayalıklarda bir yürüyüş kazası.“ Von dem Moment an war mir endgültig klar, dass ich in der Falle saß, denn meine Gastgeber wollten mich umbringen und zwar, wenn ich es richtig verstanden hatte, an der Steilküste auf dem Weg nach Kuşadası. Es sollte aussehen wie ein Wanderunfall. Und dann, ganz plötzlich: „Hey Frank, we want to show you the Casino of Kuşadası. Do you have yet been there? It’s fine, you will love it. Here take some money for tables“ … und er schob mir ein Geldbündel von bestimmt 400 US-Dollar über den Tisch. Ich zögerte, doch er bestand darauf. Von dem Moment an hatte ich es überhaupt nicht mehr eilig loszukommen. Ich quatschte locker drauflos und verwickelte meine Gastgeber so lange in irgendwelche Gespräche über Mode, Teppiche, Musik und so weiter, bis der erste genervt aufstand und wieder auf türkisch meckerte, dass ihm das Weißbrot langsam echt auf die Nerven gehe.
Schließlich, mittlerweile war es dunkel geworden, brach Aufbruchstimmung aus. Sie ließen mich keinen Moment aus den Augen und bugsierten mich mittlerweile auch gar nicht mehr freundlich, sondern nur noch bestimmt zum Auto, wo ich in der Mitte der Rückbank Platz nehmen musste. Der Wagen duftete nach frischem Leder und dem Zitronenwasser, mit dem sich die Türken oft die Hände desinfizieren. Am Spiegel klapperte eine Misbaha, eines dieser muslimischen Gebetskettchen. Und in meinem Hirn ratterten die wenigen Optionen, die mir noch blieben. Denn mittlerweile machten sie ihre Scherze darüber, wie doof ich wohl dreinschauen würde, wenn sie mich zwingen würden zu springen. Wir hatten Selçuk bereits verlassen und befanden uns schon auf der Schnellstraße durch die weite Mäanderebene Richtung Meer, als mein Plan stand und ich wusste, was zu tun war. Ich fing an, lautstark aus der Odyssee zu rezitieren. Diesen altgriechischen Text kann ich seit meiner Schulzeit und ich kann davon immer noch die ersten 70 Zeilen. Also ließ ich erst Odysseus seine Kameraden verlieren, die so blöd waren die Rinder, des Sonnengottes Helios aufzuessen und der ihnen daraufhin wutentbrannt die sichere Heimkehr verwehrte.
Doch mitten in der wundervollen Beschreibung der Insel Aiaia, auf der die Zauberin Kirke wohnte, die bekanntlich alle Männer in Schweine verwandelte, bevor sie sie selbst aufaß, kam ich gekonnt ins Stocken und rief immer wieder Aiaiaaa, aiiiiaiiii, aaaa … dann würgte ich und tat so als würde ich gleich volle Lotte ins Auto kotzen. Im vorderen Teil der Fahrerkabine brach daraufhin Panik aus, denn man wollte schließlich keine Kotze auf den Ledersitzen haben. Also hielten wir an und man ließ mich aussteigen. Ich war wirklich angetrunken, deshalb sah ich das entgegenkommende Auto nicht, das laut hupte und stark in die Bremsen ging, um mich nicht zu überfahren, was für meine Mörder sicherlich die eleganteste Möglichkeit gewesen wäre. Doch kaum war der Wagen weitergefahren, tänzelte ich vor die Motorhaube unseres Wagens und schielte kurz nach links: Und tatsächlich, da waren sie, die dichten Dornenhecken, die die Straße eigentlich bis kurz vorm Meer begleiteten. Da sich die Schnellstraße nach Kuşadası auf einem Damm befand und unter dem Damm ein Feldweg lag, musste ich nur durch das Gebüsch krabbeln und auf dem Feldweg wieder zurücklaufen. So der Plan. Aber dazu kam es nicht mehr.
Denn während ich mit beiden Händen auf der Motorhaube trommelte („aiaiaiaiaiiiiii“) und der Fahrer von drinnen Gas gab und mich doch wenigstens zu überfahren, wurde ich über die Motorhaube in die Dornenhecke katapultiert, wo ich nach kurzem Flug und einer schmerzhaften Landung im dichten Dornengestrüpp endlich zum stehen kam. Gottseidank war ich so betrunken, dass ich den Schmerz nicht so stark spürte. Ich hing kopfüber und in einem ziemlich steilen Winkel tief, tief drinnen im Dornenbusch. Ich hörte die Türken über mir fluchen. Einer zog seine Waffe und feuerte in die Dornen. Zwei Schüsse gingen ganz knapp an meinem Kopf vorbei! Ein anderer leuchtete mit einer Taschenlampe, aber ich hing viel zu tief im Gebüsch als dass sie mich hätten sehen können und so fuhren sie irgendwann mit laut aufbrausendem Motor weiter. In dem Moment wurde mir klar, dass ich das Schlimmste überstanden hatte – und übergab mich wirklich.
Mit der Zeit nüchterte ich langsam wieder aus und die Schmerzen wurden unerträglich. Egal, was ich tat, das Buschwerk, in dem ich hing, wippte bei jeder Bewegung wie ein großes Trampolin und drückte mir die Dornen tiefer ins Fleisch. Außerdem krabbelten mir die Ameisen in die Kleidung und unter mir raschelte es die ganze Zeit so laut, dass ich kaum ein Auge zudrücken konnte. Irgendwann in der Morgendämmerung hörte ich einen Pferdewagen, der sich langsam näherte. Als ich meinte, schon das Pferd atmen zu hören, begann ich zu rufen. Erst leise, dann immer lauter, bis es nur noch ein hysterisches Krächzen war und der Bauer mich gefunden hatte. Geschlagene drei Stunden musste er sich mit seinem Messer durch den Dornenbusch arbeiten und dabei vor Lachen immer wieder absetzen, bis er mich befreit hatte. Immer noch lachend zog er ein Päckchen Maltepe und bot mir eine Zigarette an. So erzählte ich ihm auf dem Rückweg nach Selçuk, was mir passiert war und er brachte mich direkt zum Grabungshaus der österreichischen Archäologen.
Anton Bammer war dankbar, dass ich gleich zu ihm gekommen war. Denn natürlich wussten die Archäologenkollegen längst, dass sich immer wieder Raubgräber auf die Grabung schlichen und wertvolle Funde stahlen. Nur konnte man deswegen nie jemanden dingfest machen. Mit meinen Angaben jedoch wurde noch am selben Morgen ein Großaufgebot an Polizei und dem aus der benachbarten Garnison alarmierten Militär zur Mafiavilla geschickt und dem dortigen Treiben der Garaus gemacht. Man fragte mich noch, ob ich bereit wäre gegen die Männer auszusagen, aber ich hatte nur noch wenige Tage, bis mein Flug zurück nach Deutschland ging und darum war ich ehrlich gesagt auch ganz froh. Heute ist von den tausend Kratzern natürlich nichts mehr zu sehen. Büsche mit Dornen dran sind mir allerdings immer noch suspekt.