Zwischen Ruine und Rekonstruktion

Das wieder aufgerichtete Nymphäum von Sagalassos (Bild von Ingo Mehling)

Warum unser Blick auf die Vergangenheit
so schwer veränderbar ist

Die Frage klingt harmlos: Müssen Dinge immer so bleiben, wie wir sie kennen? Natürlich nicht, lautet die spontane Antwort. Doch wenn man ein Leben lang in Landschaften unterwegs war, die durch ihre Unberührtheit, ihre Patina und ihre historische Rätselhaftigkeit geprägt sind, wird aus dieser scheinbar simplen Frage ein tiefes, persönliches Problem. Vor allem dann, wenn sich die vertrauten Orte plötzlich verwandeln – und zwar nicht langsam, organisch, sondern in rasanter Bauwut, orchestriert von staatlichen Behörden, die aus Ruinen Erlebnisräume machen wollen.

Wer wie ich jahrelang als Archäologe und Bauforscher zu abgelegenen hellenistisch-römischen Stätten geritten oder gewandert ist, hat eine Art Beziehung aufgebaut: zu Mauerzügen, die sich kaum noch halten; zu Kapitellen, die seit anderthalb Jahrtausenden im Staub liegen; zu Landschaften, in denen die Stille selbst zur Quelle historischer Erkenntnis wird. Es ist kein nüchternes Forschungsfeld, es ist eine Erfahrungswelt. Und jede Rekonstruktion, die diese Welt überformt, kann sich anfühlen wie ein Eingriff in die eigene Erinnerung.

Doch warum regt mich das so auf?

Zunächst gibt es die fachlichen Gründe – und die sind keineswegs banal. Wenn Archäologenteams so wie in Sagalassos ganze Tempelstümpfe wieder aufrichten, ohne auf materialgerechten Mörtel oder erdbebensichere Statik zu achten, entstehen Illusionen von Dauerhaftigkeit, die beim nächsten Beben als Trümmerhaufen enden könnten. Ganz abgesehen davon verwischt die fehlende Kennzeichnung von alt und neu die Grenzen zwischen Original und Interpretation. Rekonstruktion wird dann zum Marketing-Trick, der Authentizität simuliert, wo eigentlich wissenschaftliche Distanz nötig wäre.

Und genau an diesem Punkt beginnt es, kompliziert zu werden. Denn gleichzeitig weiß ich: Rekonstruktion ist kein nationales Phänomen. Sie passiert in Deutschland, in Frankreich, in Italien – überall dort, wo man Ruinen beleben, Tourismus fördern oder historische Identität inszenieren möchte. Der Limes wurde rekonstruiert, römische Villen wurden wiederaufgebaut, mittelalterliche Stadtkerne „verschönt“. Und auch wir scheuen uns selten, antike Architektur für neue kulturelle oder wirtschaftliche Zwecke umzuformen. Dass die römische Kultur nicht „unsere“ Kultur war, hat uns noch nie ernsthaft davon abgehalten.

Dazu kommt ein weiteres Paradox: Die Bilder, an denen wir hängen – verwitterte Säulen, bleiche Kapitelle, grauer Stein – sind ja selbst Konstruktionen des 19. und 20. Jahrhunderts. In der Antike waren dieselben Bauwerke farbenprächtig bemalt, fast schon grell, mit Ornamentik und Pigmenten, die heutigen Disney-Designern geradezu kitschig erscheinen würden. Das „ehrwürdige Grau“ der Ruine ist also gar nicht das authentische Erscheinungsbild der antiken Welt, sondern das Produkt der Zeit, die sie verfallen ließ – und des ästhetischen Empfindens, das wir mit dieser Vergänglichkeit verbinden.

Was daran stört mich also wirklich?

Nicht die Rekonstruktion selbst – sondern dass sie meine gewohnte Wahrnehmung infrage stellt. Dass sie Landschaften verändert, die für mich zu geistigen Heimatorten geworden sind. Das empfinde ich als Verlust, nicht fachlich, sondern existenziell. Es ist der Schmerz darüber, dass eine persönliche Welt verschwindet.

Vielleicht ist das tatsächlich so ähnlich wie das Wiedersehen mit einem Menschen, den man lange nicht gesehen hat. Er ist nicht mehr derselbe – und das irritiert, manchmal schmerzt es. Doch der Fehler liegt meist in der Erwartung: Man will festhalten, was längst im Wandel begriffen ist.

Darf ich mich also an Veränderungen stören? Ja, natürlich. Emotionen lassen sich nicht per Vernunft abschalten. Aber man könnte lernen, sie zu verstehen. Der Wandel an sich ist ja nicht das Problem; er ist eine Konstante der Geschichte, der Kultur und der Landschaften. Was einen trifft, ist der Abschied vom Vertrauten. Und manchmal hilft es, sich klarzumachen: Auch die Vergangenheit war nie statisch. Sie war immer in Bewegung – genauso wie wir.

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