Carpe diem


„… Dum loquimur, fugerit invida aetas.“ – Kennt Ihr das? Es ist ein Vers des römischen Dichters Horaz aus dem Jahre 23 v.Chr. und er bedeutet: „Während wir noch reden, ist die neidische Lebenszeit längst entflohen.“ Vermutlich kennt Ihr aber den Vers, der danach kommt 😉 Der lautet nämlich: „Carpe diem, quam minimum credula postero.

Dabei ist „carpe diem“ keineswegs die Empfehlung „den Tag zu genießen“ (?!?). Es ist vielmehr die Aufforderung ihn optimal zu nutzen und zwar genauso wie man jeden anderen Tag auch nutzt! Eingefleischte Wikipedianer werden jetzt aufschreien und behaupten, dass „carpe diem“ doch gerade bedeutet, man möge sein Leben genießen als gäbe es kein Morgen. So wird das Gedicht von Horaz schließlich immer zitiert. Aber ich sage euch: Das ist ein Übersetzungsfehler! 😎

Schauen wir uns vielleicht einfach mal gemeinsam an, was genau da steht: Das Wörtchen „quam“ kann vieles bedeuten, aber vor Steigerungsformen von Adjektiven heißt es meistens „wie“. „minimum“ ist der Superlativ von „parvus“ (klein, unbedeutend, gering) und hier liegt meines Erachtens schon der erste Übersetzungsfehler: Denn „mininum“ ist kein Adverb! Hätte Horaz hier ein Adverb verwenden wollen, hätte er „minime“ genommen. „mininum“ ist vielmehr Akkusativ Singular maskulinum und bezieht sich ganz klar auf „diem“: „carpe diem quam minimum“ – „nutze den Tag wie den unbedeutendsten“…. oder noch besser mit einem indefiniten Elativ: „nutze den Tag wie einen völlig unbedeutenden“.

„credula“ indes ist ein Adjektiv im Nominativ Singular femininum und bedeutet so viel wie „arglos“, wobei sich die Arglosigkeit auf „postero“ bezieht, den „folgenden Tag“. „credula postero“ bedeutet also „arglos gegenüber dem folgenden Tag“. Da Horaz dieses Gedicht für eine Griechin namens Leukonoe geschrieben hat, kann sich das Adjektiv „credula“ an dieser Stelle nur auf sie beziehen.

„carpe diem quam minimum credula postero“ ist also die Aufforderung keine Zeit zu verplempern, sondern „den Tag genauso zu nutzen wie einen völlig unbedeutenden“, aber eben auch „arglos gegenüber dem folgenden“. Denn wie Horaz schon zu Beginn des „carpe diem“-Gedichts sagt: Es ist müßig darüber nachzudenken, wieviel Zeit einem im Leben noch bleibt. Das weiß eh keiner.

Dabei ist der Wunsch das Fliehen der Zeit wenigstens beobachten zu können mindestens genauso alt. Nahezu jedes römische Landhaus besaß eine Sonnenuhr. Seit der Renaissance kannte man sogar Sonnenuhren, die man immer bei sich tragen konnte: Auf dem Bild seht Ihr meinen Bauernring, eine Replik von 1723. Der Ring, den man an einem Kettchen um den Hals tragen kann, hat einen verschiebbaren Innenring, über den sich der aktuelle Monat einstellen lässt.

Hält man den Ring dann an der Kette in die Sonne, scheint diese durch das kleine Loch und wirft an der Innenseite des Rings einen kleinen Leuchtpunkt auf die dortige Skala. Da es vor 300 Jahren noch keine Sommerzeit gab, muss man auf die dort beleuchtete Zahl noch eine Stunde draufrechnen und kommt dann ziemlich genau auf die aktuelle Uhrzeit.