Back to the roots

Dass meine geliebten Bücher wieder bei mir sind, habe ich ja gestern schon berichtet. Heute will ich Euch davon erzählen, wie der mir liebste Teil meiner Bibliothek seinen Weg zu mir gefunden hat. Anfang der 1990er Jahre, ich studierte damals in Heidelberg Archäologie, erreichte mich ein Brief mit der Todesanzeige eines meiner früheren und von mir sehr geschätzten Lehrers. Seine Ehefrau hatte irgendwie meine Heidelberger Adresse ausfindig gemacht und mich (für mich ziemlich unerwartet) zu seiner Beerdigung nach Hamburg eingeladen.

Dass mich diese Nachricht sehr berührt und zur Beisetzung selbstverständlich nach Hamburg geführt hat, hatte natürlich einen Grund: Auch Georg Niemann hatte früher Klassische Archäologie studiert, sich später aber dem Lehramt gewidmet und Zeit seines Lebens an der Gelehrtenschule des Johanneums in Hamburg Griechisch, Latein und Geschichte, sowie die Wahlfächer Buchkunde und Archäologie unterrichtet.

Seinen Griechisch-Unterricht habe ich nicht mehr in Erinnerung, wohl aber unsere regelmäßigen Studien, bei denen wir uns zweimal pro Woche von der 7.-10. Stunde in der bibliotheca Johannei trafen und mit wachsender Begeisterung die griechischen und römischen Inschriften übersetzten, deren Fotos ich von unseren Familienurlauben mitbrachte. Das mag für viele so spannend klingen wie Briefmarken aus Usbekistan auszutauschen, aber für mich waren diese Nachmittage immer ein Ausflug ins Paradies.

Herr Niemann brachte mir die Grundbegriffe und Techniken der griechischen und lateinischen Epigraphik bei, erklärte mir aus seinem unglaublich weit gefächerten Wissen die historischen und wirtschaftlichen Hintergründe der von uns gelesenen Inschriftentexte und hauchte so den uralten Buchstaben neues Leben ein.

Ich erinnere mich noch gut an ein Gespräch, das ich eines Abends nach dem Abendbrot mit meinen Eltern führte und ihnen mit leuchtenden Augen die Geschichte des Bäckeraufstandes von Ephesos erzählt hatte – eine Geschichte, die Herr Niemann und ich am Vortag in der Bibliothek des Johanneums von einem Foto aus Ephesos entschlüsselt hatten und in der es im Grunde genommen um das gleiche ging wie bei den kürzlichen Bauernprotesten.

Meine Eltern wechselten einen kurzen Blick und mein Vater nickte mir mit Tränen in den Augen zu. Dann sagte er: „Wie schön, mein Sohn, wenn Du so sicher weißt, was Du willst. Dann haben wir Dich also endgültig an die Archäologie verloren, ja? Nun gut, mein Lieber, dann lass uns zusehen, wie wir Dich nach Deinem Abitur für Dein Archäologie-Studium bestmöglich unterstützen können.“

Ich erinnere mich an dieses Gespräch deshalb so genau, weil es innerhalb unserer Familie eine Kehrtwende darstellte. Bis dahin nämlich hatte ich für meine Pläne Archäologie zu studieren immer nur Gegenwind bekommen, seit diesem Abend aber nur noch volle Unterstützung.

Nach der Beisetzungsfeier von Herrn Niemann erfuhr ich von seiner Gattin, dass mich ihr Mann testamentarisch mit seiner altphilologischen und archäologischen Bibliothek beerbt hatte. Etwa 400 Ausgaben der Fachzeitschrift ANTIKE WELT, 180 z.T. mehrere hundert Jahre alte griechische und römische Textausgaben mit kritischem Kommentar sowie knapp 100 archäologische Literaturklassiker. Und all das sollte ich nach seinem letzten Willen bekommen.

Vielleicht versteht Ihr jetzt etwas besser, warum mir diese Bücher so viel bedeuten und es mich glücklich macht, wenn ich z.B. die Epigramme des Martial jetzt einfach nur aus dem neuen Regal zu ziehen brauche und bei der Lektüre der lateinischen Distichen in seinem köstlichen Humor schwelgen kann.