


Im Lateinunterricht lernten wir, dass „Quilibet fortunae suae faber„. Und die Welt der Alumni Johannei Hamburgensis lehrte uns, dass ein guter Schmied seinem Glück immer nachhilft. So beschloss ich einst in der Obersekunda, den für die Schülerzeitung schon lange versprochenen Artikel über meinen Istanbuler Schulweg erst für die nächste Zwicker-Ausgabe einzureichen. Denn jene Ausgabe sollte die große Ehre erhalten, als Beispiel einer deutschen Schülerzeitung auf Mikrofilm abgespeichert und im Untergrundarchiv des Barabarastollens aufbewahrt zu werden, der das kulturelle Erbe Deutschlands vor Kriegen und Naturkatastrophen bewahren soll.
Mein Artikel war keine literarische Meisterleistung. Ich beschrieb nur meinen allmorgendlichen Weg von den europäischen Hügeln des Ulus hoch über dem Bosporus bis nach Beyoĝlu, wo ich zur Schule ging. Manchmal fuhr mein Vater unter der alten Bosporusbrücke hindurch nach Ortaköy und von dort über die Uferstraße nach Beşiktaş, vorbei am Dolmabahçe Palast und dem schon seit Ewigkeiten dort stehenden Kettenkarrussell über Fındıklı nach Beyoĝlu. Wenn er es eilig hatte, fuhr er über Levent und Nişantaşı, vorbei am berühmten Gezi-Park, zum Taksim und von dort über die damals noch befahrbare Istiklalcaddesi zur Deutschen Schule.
Je nach Verkehr und natürlich auch abhängig davon, ob ich mit meinem Vater oder dem deutschen Schulbus fuhr, der an gefühlt jeder Ecke hielt, um ein paar Schüler aufzunehmen, dauerte dieser Schulweg 30-120 Minuten. Und er war jeden Tag anders. Aufregend und voller Faszinationen. Ich erinnere mich an den betörenden Geruch frischer Brote aus den Bäckereien, den beißenden Qualm der Laubfeuer, die im Herbst immer vor dem Dolmabahçe-Palast brannten und den olfaktorischen Mix aus Altöl, Fisch und Meer, der einem an der Uferstraße von Fındıklı entgegenschlug. Ich höre noch heute die hupenden Autos, das Geschrei der Simitverkäufer und die Gesänge der Muezzins. Und ich erinnere die geradezu explodierende Stille meiner Schule, eine Oase der Ruhe und Gelehrsamkeit inmitten der chaotisch lauten und quirligen Metropole.
Mein Artikel kam gut an und ich erhielt nette Rückmeldungen sowohl von meinen Mitschülern, aber auch von Lehrern und sogar von einigen Eltern. Aber wie das bei Gedankenschmieden so üblich ist, bedeutet jeder neue Tag auch ein neues Spiel und neues Glück. Und so vergaß ich meinen Artikel über fast 40 Jahre, bis ich ihn neulich bei der Rettungsaktion meiner alten Bücher wiederfand. Mit ihm erwachte auch die Erinnerung an die staatliche Konservierung unserer Zwickerausgabe und ich begann zu recherchieren. Und haltet euch fest: Der Barbara-Stollen, in dem durch meinen Zwicker-Artikel auch mein Name der Ewigkeit übergeben wurde, liegt in Oberried, keine 10 km von meinem heutigen Wohnort entfernt! Die alten Griechen, auch das habe ich an meinem humoristischen Gymnasium gelernt, verehrten die Glücks- und Zufallsgöttin Tyche. Und wenn sie bei dieser Glüx-Geschichte ihre Finger mit im Spiel hatte, dann muss sie einen guten Humor haben!