




Manchmal vergisst man den Anfang einer Geschichte und ist dann umso mehr erstaunt, wenn man sie noch einmal liest und begreift, dass sich ihr ganzer Zauber ohne den Anfang nie hätte entfalten können. Mir ging das heute so mit einem alten Aktenordner, der zu 99% ein Fall für die Altpapiertonne war. Aber dann fielen mir ein paar Fotos und Briefe entgegen und mit ihnen ein Schwall an Erinnerungen an den Beginn meiner archäologischen Ausbildung.
Es war das Jahr 1990, mein zweites Semester, als ich ein kleines Projekt fertigstellen konnte, an dem ich fast ein Jahr lang immer mal wieder in meiner Freizeit gewerkelt hatte. Nämlich ein maßstabsgetreues Holzmodell des antiken Rathauses von Milet. Bei einem Maßstab von 1:50 hatte mein Modell eine Seitenlänge von 110 cm zu einer Breite von 60 cm. Ich hatte das Modell nach dem Grabungsergebnissen von Theodor Wiegand und Fritz Krischen angefertigt, die in den 1920er Jahren in Milet geforscht haben.
Fritz Krischen galt lange Zeit als Halbgott der Bauhistoriker, weil er einen ganz unverwechselbaren Zeichnungsstil entwickelt hatte, mit dem er die Ruinen der Antike zu klassizistisch anmutenden Rekonstruktionen wiederbelebte. Das gezeichnete Bild unten zeigt den von Krischen rekonstruierten Sitzungssaal des Buleuterions von Milet. Die antiken Rathäuser hatten alle Sitzstufen im Halbrund oder manchmal auch in rechteckiger Form. Die meisten Rathäuser waren auch nicht sonderlich groß. Das hellenistische Rathaus von Milet fiel da eindeutig aus dem Rahmen.

Was mich damals reizte, mein Modell zu bauen, war eine Erweiterung von Krischens Konzept: Nämlich die 3D-Ansicht eines maßstabsgetreuen Modells, das man drehen und wenden konnte, um überall hineinzuschauen und interessante neue Perspektiven zu entdecken. Dass ich 30 Jahre später in der Lage sein würde, diesen Sitzungssaal digital nachzubauen und filmisch zu animieren, hätte ich mir damals nicht träumen lassen. Und Fritz Krischen hätte es garantiert auch gefallen.
Nach der Fertigstellung und anfänglichen Begeisterung über die vielen neuen Perpektiven, folgte die Erkenntnis, dass das Modell für mein Studentenzimmer eigentlich zu groß war. Apropos, kennt Ihr den Telefonbuch-Witz? Gib einem Jura- und einem Archäologie-Studenten ein 100 Seiten starkes Telefonbuch und sag ihnen, sie mögen es auswendig lernen. Der Jurastudent wird dich fragen: Wieviel Zeit habe ich dafür? Der Archäologiestudent wird dich fragen: Und was bekomme ich dafür? Denn wie schon der römische Dichter Juvenal vor 2.000 Jahren richtig erkannte: Wer gibt einem Altertumsforscher schon das, was er dem gibt, der ihm die Nachrichten vorliest?
Mein erster Brief mit ein paar Fotos meines Modells ging an Herrn Dr. Wolfgang Radt in der Zweigstelle Istanbul des Deutschen Archäologischen Instituts und der hat auch prompt geantwortet. Ein paar Wochen später erhielt ich einen weiteren Brief von Wolf Koenigs, seinem Chef, der mir ein Angebot über 750 DM machte – für mich damals ein kleines Vermögen! Und so gelangte mein Holzmodell über Karlsruhe nach Istanbul und wurde von dort ins 500 km entfernte Grabungshaus von Milet gebracht.
Aber auch in Milet blieb es nicht lange. Denn bei irgendeinem Zwist zwischen der Deutschen Grabungsleitung und dem türkischen Gouverneur von Manisa wechselte mein Holzmodell samt eigens dafür angefertigter Glasvitrine als Geschenk den Besitzer und stand fortan im Foyer der Stadtverwaltung der Provinzhauptstadt Manisa. Zuletzt dort gesehen habe ich es vor knapp 12 Jahren. Aber vielleicht ist es auch längst ausgemustert und entsorgt worden.
Viel entscheidender ist die Tatsache, dass ich im Grunde genommen schon mit diesem Holzmodell das massive Fundament meines für alle folgenden baugeschichtlichen Untersuchungen so wichtigen Raumvorstellungsvermögens gelegt hatte. Ohne diesen Grundstein wäre ich nicht in der Feld- und Bauforschung gelandet und hätte wohl mein virtuelles Rekonstruktionsprojekt der Grotte di Catullo auch niemals in Angriff genommen.