
Es ist eigentlich merkwürdig, dass es für ein so selten auftretendes Phänomen wie den Leichenschatten ein eigenes Wort gibt. Kein Wunder, dass die Googlesuche fast ausschließlich Treffer zu irgendeinem Rosenheim-Krimi ausspielt, der das Wort im Titel hat. Leichenschatten sind Verfärbungen im Erdreich, die nach der vollständigen Verwesung des Weich- und Hartgewebes von Menschen und Tieren entstehen.
Die meisten Leichenschatten werden bei archäologischen Ausgrabungen einfach übersehen. Umso gruseliger ist es, wenn sie dann doch mal auftauchen. Auf der Wohnstadtgrabung von Pergamon hatte ich einmal das Glück, den Leichenschatten eines römischen Imbiss-Kochs zu finden, dessen trauriges Schicksal auf diese Weise bekannt wurde. Der arme Mann hatte keine Chance. Das Erdbeben muss eine so kräftige Nord-Süd-Bewegung gehabt haben, dass alle Wohnbauten in der Philetaireia wie Kartenhäuser in sich zusammenklappten.
Nachdem man die Opfer begraben und aus dem Schutt die noch brauchbaren Überreste geborgen hatte, wurden die zerstörten Hanghäuser einfach einplaniert und auf diesem Niveau neue Gebäude errichtet. So blieb die antike Imbissbude erhalten. Und wir fanden nicht nur die Spieße sowie die vom Feuer geschwärzten Brandspuren des Imbissgrills, sondern auch einen Topf mit Silbermünzen – die Tageseinnahmen des antiken Dönerladens.
Nach der vollständigen Schnittdokumentation wollten wir schon weitergraben, als mir im staubigen Boden eine Kontur auffiel. Ich stoppte die Arbeiten in meinem Schnitt und ließ den Boden mit einer Sprühflasche befeuchten, die wir für die Mosaiken nutzten. BÄM, und das war echt spooky! Denn vor den Scherben eines großen Pithos – einem Aufbewahrungsgefäß für Öl oder Getreide – zeichnete sich deutlich der Leichenschatten einer liegenden Gestalt ab, die Beine angewinkelt, beide Arme von sich gestreckt. Die herabstürzende Decke hatte die Person vermutlich mit tödlicher Wucht gegen den Pithos geschleudert.
Der kleine Film, an dem ich gerade arbeite und der von den menschenverachtenden Sklavenunterkünften im Kellergeschoss der Grotte di Catullo berichtet, kommt mir zuweilen vor als zeigte er den riesigen Leichenschatten eines seinerzeit quicklebendigen Gebäudes, von dem heute nur noch ein paar Mauerstümpfe geblieben sind.