Das Ende meiner Theaterkarriere

Wer kennt sie nicht, die berühmte Strophe aus Pygmalion: „Wart’s nur ab, Henry Higgins, wart’s nur ab …“ Oimoi, was war ich damals verknallt! Mit 15 Jahren hat man ja noch keinen blassen Schimmer von der Liebe und doch war ich damals Hals über Kopf in ein Mädchen an meiner Schule verliebt. An ihren Namen kann ich mich leider nicht erinnern, aber sie war eine Göttin! Schulterlanges, braunes Haar, feine Gesichtszüge, einen sportlichen Körper, schöne Hände … Und nicht nur das, sie war auch zwei Jahrgänge über mir und spielte im Schülertheater die Eliza in Bernard Shaws Pygmalion.

Dummerweise war ich so schüchtern, dass ich nicht wusste, wie ich diese schöne Frau auf mich aufmerksam machen konnte. Doch dann kam mir das Schicksal ein bisschen entgegen: Der Souffleur des Schulbühnenteams hatte offenbar keine Lust mehr und so wurde seine Stelle frei. Ich witterte meine Chance und wurde Mitglied des Schülertheaters am Johanneum. Also saß ich fortan jeden Donnerstag Nachmittag in meinem Soufflierkasten und half den Akteuren auf der Bühne bei ihren Texthängern. So war ich meiner Eliza ganz nah und hing mit schmachtenden Blicken an ihren Lippen, wartend und hoffend ihr irgendwann mit dem rettenden Textschnipsel ritterlich zur Seite zu springen.

Das war eine tolle Zeit und ich träumte fast täglich davon, meiner Angebeteten nicht nur ihre Textparts, sondern endlich auch all meine Liebesschwüre entgegenzuflüstern. Doch auch die Lüge vom richtigen Moment war mir damals noch nicht bekannt. Und schließlich kam der Tag der Aufführung. Meine Güte, war ich aufgeregt! Die Theatergruppe hatte mir angekündigt, dass sie mich nach der Aufführung in ihre Stammkneipe einladen würden. Sozusagen der Ritterschlag, wenn auch nur mit Cola oder Orangensaft und wer weiß, vielleicht sogar der richtige Moment für die Wahrheit …

Nach der gelungenen Generalprobe blieb ich in meinem Soufflierkasten sitzen und ging noch einmal alle kniffligen Textstellen durch. Die mittlerweile eingetroffenen Zuschauer bemerkte ich erst, als die Stimmen in der Johanneums-Aula plötzlich verstummten und der große rote Vorhang vor mir majestätisch aufrauschte. Wie jetzt?, dachte ich. Ich wollt doch noch mal austreten. Aber da ging es auf der Bühne auch schon los.

Die Schauspieler beherrschten ihre Parts alle sicher. Akt für Akt blätterte ich im matten Schein meiner Soufflierkastenlampe durch den Pygmalion, ohne gebraucht zu werden und so konzentrierte ich mich schließlich nur noch auf verschiedene Beinverknotungen, um meinen unangenehm wachsenden Harndrang zu unterdrücken. Eine unerwartet lange Stille holte mich schlagartig in die Gegenwart zurück, als ich realisierte, dass der Moment der Momente gekommen war. Mit flehendem Blick hoffte Eliza auf meine Hilfe, doch ich hatte den Faden verloren und suchte verzweifelt nach der richtigen Textstelle. Ha!, rief Eliza schließlich empört und improvisierte mit einem halbwegs passenden Text.

Doch mit ihrem temperamentvollen ‚Ha!‚ hatte sie auch die Luke meines Soufflierkastens zugetreten. Vorsichtig öffnete ich die Luke erneut, was Eliza ein spöttisches Lachen entlockte: Du hattest deine Chance, mein lieber Higgins, und hast sie nicht genutzt. Ich war völlig irritiert. Was redete sie denn da? Der Text gehörte nicht zum Stück. Doch jetzt grinste sie mich direkt an, rief Dann fahr zur Hölle! und trat den Kasten abermals zu. Tatsächlich passte ihre Improvisation zur Stelle des Aktes, doch nun gab es keinen Zweifel mehr. Ich hatte jede Chance, bei Eliza zu landen, verspielt. Ja schlimmer noch, ich hatte mich lächerlich gemacht und die nächste Toilette war gefühlte tausend Meilen entfernt.

Eine ganze Weile noch folgte ich dem gesprochenen Text, der wie aus weiter Ferne durch den Holzboden der Bühne klang. Doch irgendwann gab ich es auf, knipste resigniert die Soufflierlampe aus und begann vor Scham zu weinen – denn der Moment, mich da unten einzunässen, schien zum Greifen nahe. Nach dem Schlussakt donnerte der Applaus durch die Aula, doch die Luke blieb verschlossen und ich traute mich auch nicht, sie noch einmal zu öffnen. Mein Theaterteam schien sich im Übrigen auch einig zu sein, dass es wohl nicht lohne, mich mit auf die Bühne zu holen.

Also blieb ich einfach in meinem Kasten sitzen, bis ich nichts mehr hörte. Dann stieß ich so heftig die Luke auf, dass sie hintenüber auf die Bühne knallte und den armen Hausmeister, der als Letzter die Aula von losen Blättern befreite, fast in Ohnmacht fallen ließ. Mit einem Satz war ich auf der Bühne, rief Herrn Äppler zu, dass ich ihm das später erklären würde, weil ich ganz dringend aufs Klo müsse und flog förmlich aus der Aula in die langen Flure. Was für ein herrlich befreiender Moment!

Als ich von den Schultoiletten zurückkam, schloss der gute Herr Äppler gerade die Aula ab und sagte, dass ich nun auch das Gebäude verlassen müsse. Auf dem Weg zum Ausgang erzählte ich ihm meine Geschichte, was ihm ein so herzliches Lachen entlockte, wie ich es nie zuvor und auch nie wieder danach von ihm gehört habe. Aber es war kein hässliches Lachen, sondern ein wissendes und zugleich freundliches.

Eines Tages, gab mir Hausmeister Äppler zum Abschied mit auf den Weg, wirst du über diese Geschichte lachen können. Und mach dir nichts draus. Wir alle machen Fehler, auch deine Eliza. Aber dass dich die anderen nach der Aufführung nicht mit auf die Bühne geholt haben, ist schäbig. Sowas macht man nicht. Ich an deiner Stelle würde das ganze einfach vergessen. Vergiss deine Eliza, vergiss deinen Fehltritt und das Schülertheater, das Theater des Lebens ist eh viel besser und du beherrschst das offenbar auch viel routinierter als die ganze Laientruppe da zusammen. Komm gut nach Hause, mein Junge. Gute Nacht.

bene locutus, ianitor, bene locutus.