Der große römische Dichter Publius Ovidius Naso hatte seine berühmten Metamorphosen gerade erst fertig geschrieben, als ihn im Jahre 8 n.Chr. die volle Wucht der kaiserlich verfügten Relegatio traf: Seine Rechte als römischer Bürger durfte er ebenso behalten wie sein Vermögen. Er selbst aber musste Rom verlassen und sich an den Rand der Zivilisation begeben, nämlich nach Tomis (dem heutigen Constanţa in Rumänien) – einer kleinen Stadt am Schwarzen Meer, deren Peripherie erst wenige Jahre zuvor dem römischen Imperium unterworfen worden war.
Die genauen Hintergründe seiner Verbannung, in denen sich Ovid selbst einen error eingesteht, liegen bis heute im Dunkeln; einige Hypothesen sprechen von einer Mitwisserschaft, andere von einem selbst begangenen Fehler des Dichters. Von Tomis aus setzte Ovid jedenfalls sein dichterisches Werk mit ungebrochener Genialität fort: Er vollendete die Fasti, schrieb seine Tristien und die Briefe aus Pontos. Doch auch, wenn er in seinen Spätwerken unaufhörlich um seine Rehabilitation kämpfte, wurde seine Verbannung nie aufgehoben. Das letzte, in seinen Schriften erwähnte und klar zu datierende Ereignis stammt aus dem Sommer des Jahres 17 n.Chr. Danach bricht die Überlieferung kurzerhand ab.
Die Ovid-Forschung vertritt daher die opinio communis, Ovid sei wenige Monate später, vielleicht noch im Herbst des Jahres 17 n.Chr., spätestens jedoch im Winter des darauf folgenden Jahres verstorben. Diese Hypothese ist nicht unwahrscheinlich, zumal Ovid in den zehn Jahren seiner Verbannung fast jährlich ein neues Werk veröffentlicht hat. Das abrupte Ende seiner Publikationen legt daher ein einschneidendes, wenn nicht gar finales Ereignis nahe. Aber für wirklich stringent und geradezu unausweichlich halte ich diese Annahme auch nicht.
Die kleine Novelle, die ich 2006 zwischen zwei Grabungsprojekten in Nordsyrien geschrieben habe, möchte dieser opinio communis eine Antithese entgegensetzen, die mir bis heute weitaus sympathischer ist.
Tomis am 13. Mai 18 n.Chr.
Es war ein wunderschöner Frühlingsabend. Der Himmel zeigte sich wolkenlos und vom Meer wehte ein warmer Wind, der nach Fisch roch. Der alte Mann war außer sich. Seine weiße Toga starrte vor Schmutz und roten Weinflecken. Die Schnürbänder seiner Sandalen waren offen und sein spärliches Haar struppig und halb verfilzt. Er schrie und weinte, fluchte und fantasierte, tänzelte dabei wild um das Feuer und nährte die Flammen mit seinen Papyri.
Der griechische Sklave, den der alte Mann bei sich hatte, ein junger Mann mit blondem Haar, feinen Gesichtszügen und einer sauberen Tunika, versuchte vergeblich, seinen Herrn wieder zu beruhigen. Die Fischer, die den beiden von der anderen Seite des Strandes beim Flicken ihrer Netze zusahen, amüsierten sich köstlich.
Seitdem dieser alte Narr vor neun Jahren nach Tomis gekommen war, benahm er sich wie ein Fisch, den das Meer ans Land gespült hatte. Er schimpfte und beleidigte alles und jeden, schlug dabei wild um sich und tat sich selbst unendlich leid. Zwischendurch schrieb er an irgendwelchen Gedichten, die er manchmal den Matrosen mit nach Rom gab. Aber so schlimm wie an diesem Abend war es noch nie gewesen.
Einer der Fischer, der außer seiner dunkelgrünen Tunika nichts anhatte, ging auf ihn zu und stellte ihn zur Rede:
»Was soll das, Naso? Was machst du da? Siehst du denn nicht, dass alle über dich lachen?«
Der Sklave hob die Hand, doch der alte Mann war schneller.
»Was fällt dir ein, Fischer, so mit mir zu reden?«
»Nun, ich bin ein freier Bürger dieser Stadt«, erwiderte der Fischer ruhig, »und ich kann hier reden, mit wem immer ich will. Du hingegen bist ein …«
»… Gast«, ergänzte Naso. »Jaja, ich weiß. Und Gäste, meinst du, sollten sich anders benehmen? Doch im Gegensatz zu den meisten eurer Gäste bin ICH nicht freiwillig gekommen.«
»Das mag sein«, brummte der Fischer achselzuckend. »Aber das ist ja nicht mein Problem und gibt dir noch lange nicht das Recht dich hier aufzuführen wie der letzte Barbar.«
Der alte Mann schüttelte ärgerlich den Kopf und machte eine verächtliche Handbewegung. Nach einer Weile wallte wieder der Zorn in ihm auf.
»Sie wollen einfach nicht hören«, schrie Naso wie von Sinnen, kramte aus seinem Beutel einen weiteren Stoß Papyri hervor und warf ihn ins Feuer.
»Nicht, Herr, ich bitte euch«, rief der Sklave entsetzt, »zerstört nicht auch noch die ars superandi.«
Naso lachte verächtlich. »Lass mich, Kallias! Was nützt mir denn diese Schrift, wenn sie nicht auf mich hören?«
»Wer denn überhaupt?« wollte der Fischer wissen.
»Ach, meine Freunde, Kaiser Tiberius, die Senatoren, keiner! Ich sage dir, Fischer, wer sich von euch vier Asse verdienen möchte, der möge mich aufs Meer rudern. Und dann wird sich Ovid samt seinem Geist zu Neptun in die Fluten stürzen. Beim Amor, es ist zum verzweifeln!«
»Gut«, forderte ihn der Fischer auf, »dann lass uns gehen.«
Naso sah ihn verständnislos an. »Gehen? Wohin?«
»Naja, ich rudere dich aufs Meer und du machst dem Ganzen ein Ende. Mann, dein ewiges Rumgejammer ist doch zum Kotzen! Wer sollte deinen Tod schon beweinen? Die Römer vielleicht? Oder dein Kaiser oder die Leute von Tomis? Nein, Ovidius, dich wird niemand vermissen.«
Ovid warf dem Mann einen abschätzigen Blick zu, doch er schwieg. Seufzend warf er seine letzten Papyri ins Feuer. Dann nickte er seinem Sklaven zu und schickte ihn nach Hause.
Nachdem dieser widerstrebend gegangen war, griff Ovid mit beiden Händen nach einem Feldstein.
»Meinst du, Fischer, dieser Stein ist schwer genug, um mich in die Tiefe zu ziehen?«
»Er ist schwer genug. Hast du Geld dabei?«
Ovid kramte seinen Geldbeutel hervor und reichte dem Fischer vier Kupfermünzen.
»Sieben«, erwiderte dieser. »Du schuldest mir sieben Asse.«
»Wieso sieben? Wir hatten vier ausgemacht!«
»Jaaa, vier für das Rausrudern. Aber wenn du mit dem Stein versinken willst, musst du ihn an dir befestigen. Und Seile kosten Geld. Also bekomme ich noch drei Asse für das Tau.«
»Schon gut«, seufzte Ovid und gab ihm drei weitere Kupfermünzen. »Wie ist dein Name?«
»Ich heiße Demarchos.«
»Gut, Demarchos. Dann lass uns aufbrechen.«
Der Fischer schlenderte zum Hafenbecken, in dem die kleinen Kähne vor sich hindümpelten, gefolgt von dem alten Römer, der aussah, als würde er unter der Last des Feldsteins zusammenbrechen. Kopfschüttelnd schauten die übrigen Fischer zu, wie Demarchos erst den Stein in sein Boot wuchtete und dann dem alten Mann beim Einsteigen half.
»Was ist?« jammerte Ovid. »Was schaust du mich so an? Sieh lieber zu, dass du dein Schiff ruderst.«
»Ich frage mich, warum du dich eigentlich um jeden Preis umbringen willst. Ich meine, du hast doch alles, was man zum Leben braucht; du hast etwas zum Anziehen, hast Luft in deinen Lungen und brauchst dir um dein täglich Brot keine Gedanken zu machen …«
Ovid schnaubte verächtlich. »Das verstehst du nicht.«
»Aha«, brummte Demarchos. »Du verstehst immer alles, nicht wahr? Und die anderen verstehen grundsätzlich nichts. Aber wie sollten die anderen jemals auf dich hören können, wenn sie nichts oder doch zumindest nichts so verstehen wie du?«
»Das ist doch egal. Es ist sowieso alles egal.«
»Wie du willst. Halt das mal bitte.«
Ungeschickt hielt Ovid das Seilende des großen Netzes, das Demarchos nun über Bord warf. Dann nahm ihm der Fischer das Tau aus den Händen und knotete es an ein kleines Fähnchen, das an einer runden Holzkugel im Wasser schwamm.
»So, und jetzt werden wir angeln. Hast du schon einmal einen Fisch gefangen?«
Ovid wurde hysterisch. »Was?«
»Ich fragte dich, ob du schon einmal einen Fisch gefangen hast.«
»Nein, wann sollte ich? Aber deswegen bin ich auch nicht hier. Wo hast du jetzt das Tau, das ich um mich und den Stein binden kann?«
»Ein Tau … Hmm, ich glaube, ich habe gar kein überflüssiges Tau an Bord. Da müssten wir erst zurück in den Hafen rudern. Aber wir können den Stein ja auch in dein Gewand einwickeln.«
»Nichts da«, konterte Ovid, »ich habe das Tau bezahlt. Also will ich das Tau auch haben.«
»Kommt gar nicht in Frage«, lachte der Fischer. »Schau, die Sonne ist schon untergegangen. Wenn wir jetzt umkehren, verpasse ich noch die Abendwanderung der Fische. Da gebe ich dir lieber dein Geld zurück.«
»Beim Pluto, was soll ich jetzt noch mit meinem Geld? Ich brauche ein Tau!«
»Pech …«
»Siehst du: Genau das meinte ich vorhin. Das ist so ungerecht! Keiner gibt mir, was mir zusteht.«
»Zum Donnerwetter«, polterte Demarchos. »Geht das Scheißgejammer denn schon wieder los? Wenn du dich unbedingt umbringen willst, bitte, dann tu es doch einfach. Dafür brauchst du kein Seil. Hol einmal tief Luft, nimm deinen verdammten Stein und verpiss dich!«
Ovid sah den Fischer verwirrt an. Doch der war jetzt wütend und rutschte zu ihm hinüber.
»Na los, beim Poseidon! Worauf wartest du noch? Etwa, dass die Fische ›Heil dir, Ovid!‹ zurufen? Einen Dreck werden sie tun. Aber bitte, wenn du unbedingt meinst, dich verdrücken zu müssen, dann zisch ab. Ich werde dich nicht halten!«
Ovid umklammerte den Feldstein, bis seine Handknöchel weiß wurden. Kalter Schweiß tropfte ihm von der Stirn und er war fest entschlossen zu springen, doch noch zögerte er.
»Na, was ist jetzt?« höhnte Demarchos. »Kannst du nicht springen oder willst du nicht?«
»Ich tu’s«, erwiderte der alte Mann und kletterte mit seinem Stein auf die Reling des Bootes. Wie im Rausch sah er noch einmal sein ganzes Leben an sich vorübergleiten; die herrlichen Sommer in Rom, die Enttäuschung seines Vaters, als er sich gegen die Politik entschied; die Heirat mit seiner großen Jugendliebe, die Geburt seiner Kinder und seine ersten Erfolge als Dichter; die Verehrung, die ihm seit dem Tode des großen Vergil zuteil wurde, und seine Verbannung aus Rom.
Als schließlich seine Jahre in Tomis an ihm vorüberzogen, war er wieder fest entschlossen zu springen. Doch dann sah er plötzlich einen Delphin, der keinen Steinwurf vom Boot entfernt aus dem Wasser auftauchte und einen kühnen Luftsprung vollzog. Ovid klatschte begeistert in die Hände und verlor dabei seinen Stein.
»Schlaues Kerlchen«, grinste Demarchos und nickte dem Delphin anerkennend zu, der noch immer seine Bahnen um den alten Fischerkahn zog. »Verdammt schlaues Kerlchen!«
»Mein Stein ist weg«, kommentierte Ovid die neue Situation.
»Tja, kein Tau, kein Stein … und was ist mit dir? Willst du überhaupt noch springen?«
»Ach, ich glaube nicht …«
»Das hört sich gut an«, lachte Demarchos versöhnlich. »Ich weiß auch gar nicht, wie sehr es mir gefallen hätte, meine Familie in den nächsten Wochen von Fischen zu ernähren, die zuvor von dir gekostet haben. Wer weiß, vielleicht hätte meine Frau dann plötzlich genauso rumgejammert wie du … Bei Hestia, komm nicht immer so spät nach Hause! Ach, ach, ach, keiner will auf mich hören!«
Zu Demarchos’ Überraschung fing Ovid lauthals an zu lachen. Der Fischer zögerte einen Moment, doch dann konnte er nicht anders als mitzulachen. Sie lachten, bis ihnen die Tränen kamen und es war ein herzliches und ungeheuer befreiendes Lachen.
»Vermutlich hast du Recht«, resümierte Ovid und wischte sich die Tränen aus den Augen.
»Was meinst du?«
»Naja, wahrscheinlich gibt es wirklich niemanden, der mich in Rom vermisst.«
»Zumindest keinen, auf den du immer Wert gelegt hast. Vielleicht ergötzen sie sich ja sogar an der Vorstellung, wie sehr du hier zu leiden hast.«
»Den Gefallen tu ich ihnen nicht … Zumindest nicht mehr.«
Demarchos fürchtete, Ovid könne wieder in seine alte Mitleidstour verfallen. Doch der Römer lächelte nur wissend in sich hinein. Verträumt schaute er über den Pontos auf den Horizont, an dem schon die ersten Sterne flimmerten. Und während ihm der milde Nachtwind ins Gesicht wehte, fühlte er sich fast – und vielleicht zum ersten Mal überhaupt – mit diesem Ort verbunden.
»Wie schön es hier sein kann!«
»Ja«, freute sich Demarchos, »so ist es recht. Öffne dein Herz und betrinke dich am Leben!«
»Was bin ich nur für ein Idiot gewesen!«
Diesmal war es Demarchos, der lauthals lachen musste. »Das kannst du wohl laut sagen!«
Und wieder lachten sie gemeinsam, bis es nur noch ein heiseres Krächzen war. Der alte Fischer zündete eine Kerze an und stellte sie in die Laterne am Heck seines Bootes. Dann holte er einen Weinschlauch hervor und bot Ovid einen alten, verbeulten Zinnbecher an.
»Euer Wein schmeckt scheußlich, aber er betäubt wenigstens die Sinne.«
Demarchos warf ihm einen zürnenden Blick zu. »Dann musst du dir deinen eigenen Wein mitbringen.«
»Sei doch nicht gleich beleidigt«, beschwichtigte Ovid und fragte nach eine kurzen Pause: »Fährst du morgen Abend wieder aufs Meer?«
»Wir Fischer fahren JEDEN Abend aufs Meer, Naso. Das dürfte dir in den letzten neun Jahren kaum entgangen sein. Schließlich sind wir nicht in der glücklichen Lage wie gewisse Leute, die sich nur um ihre Rückkehr nach Rom kümmern müssen.«
»Dürfte ich dich um einen Gefallen bitten?«
Demarchos bedachte ihn mit fragenden Blicken. »Warum nicht? Wenn ich dir helfen kann.«
»Mit meiner Dichtkunst bin ich fertig. Jedenfalls glaube ich nicht, dass ich jemals wieder schreiben möchte.«
Demarchos hob verwundert seine buschigen Augenbrauen.
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
»Ich weiß es«, erwiderte Ovid ruhig. »In Rom habe ich geschrieben, um bewundert zu werden. Hier in Tomis eigentlich nur noch, um mich selbst zu spüren und den Schmerz zu lindern. Aber das ist jetzt auch egal. Nur sterben – so viel weiß ich immerhin seit heute Abend – sterben will ich einfach noch nicht.«
Er schwieg und schaute dabei verträumt in die Nacht. Nach einer Weile sagte er leise: »Aber vielleicht könntest du mir ja das fischen beibringen?«
»Ich kann’s versuchen«, brummte Demarchos. »Aber dann musst du morgen Abend wieder mit rauskommen.«
»Das werde ich tun.«
»Und übermorgen. Und die ganzen nächsten Tage.«
»Natürlich …«
»Und ich will kein Gejammer hören! Ich warne dich: Ich werde immer einen Stein und ein altes Tau dabeihaben …«
»Keine Sorge«, lachte Ovid. »Ich habe auch gar keine Lust mehr dazu. Ich bin des Leidens müde.«
Demarchos beugte sich lachend zu ihm hinüber und reichte ihm die Hand. »Na dann … Willkommen im Leben, Naso! Willkommen in Tomis!«