Millis Christbaumstollen

Es gibt ja so Geschichten, die man im Sinne der political correctness lieber nicht erzählen sollte. Und die von Millis Christbaumstollen ist definitiv so eine. Aber ich find sie trotzdem witzig. Und weil ich heute im Supermarkt Zeuge davon wurde, wie einem jungen Mädchen ein Christbaumstollen mit auffällig dumpf klingendem BUMM auf den Boden fiel, will ich sie euch trotzdem erzählen.

Es war 1995 in Berlin. Ich wohnte damals mit meinem jüngeren Bruder in Kreuzberg 61 und stand kurz vor dem Abschluss meines Archäologie-Studiums. Schon diese brüderliche Männer-WG war eine witzige Erfahrung, die im Herbst 1995 dazu führte, dass wir beide – ohne es zu wissen – dieselbe Freundin hatten.

Milli – so hieß die Holde – war sehr praktisch veranlagt und weil sie in ihrer Männer verschleißenden Phase bald genug von uns beiden hatte, kam sie uns Mitte November offiziell besuchen. Wir selbst gingen natürlich von zwei Damen aus und freuten uns darauf, einander unsere Freundinnen vorzustellen. Umso mehr fühlten uns wie vor den Kopf gestoßen, als Milli uns zur Begrüßung beide umarmte und jedem von uns einen lächelnden Kuss auf die Backen drückte.

Sei war gekommen, um mit uns Schluss zu machen. Aber sie wollte uns zum Abschied – und da sind wir wieder bei Millis praktisch denkender Ader – einen gemeinsamen Christbaumstollen schenken, den sie selbst gebacken hatte. Ein Riesen-Oschi von Christbaumstollen, den sie in der Mitte durchschneiden musste, weil sie ihn anders nicht hätte transportieren können. Aber wir sollten ihn mindestens bis Weihnachten liegen lassen, mahnte sie mit erhobenem Zeigefinger, weil er sonst einfach nicht schmeckt. Alles klar? Also, tschüss Jungs, nicht traurig sein, Ihr findet schon eine andere. Und weg war sie.

Noch heute sind wir Brüder uns einig, dass wir uns nie zuvor (und auch danach nie wieder) so dermaßen haben verarschen lassen wie von dieser Frau! Doch der Abend nach Millis Abgang ging in die Geschichte ein. Die Stories unserer oft erschreckend ähnlichen Erlebnisse mit Milli sprudelten nur so auf den Küchentresen, der Alkohol floss in Strömen und ab und zu auch die eine oder andere Träne, jedoch nicht aus Trauer oder Verlustschmerz, sondern vor Lachen, bis unsere Nachbarin, Frau Klaube, nachts um vier gegen unsere Haustür hämmerte, weil wir ihr zu laut waren.

Millis doppelter Christbaumstollen indes war ein Tabu-Thema, das wir nach trefflicher Einigung oben auf dem Küchenschrank ausblendeten. Wir hatten in Erwägung gezogen, ihn einfach wegzuschmeißen, aber da waren irgendwelche Rachegedanken, die uns daran hinderten. Und so haben wir ihn schließlich vergessen.

Ende Februar 1996 wurde es in Berlin dann nochmal so richtig kalt. Mein lieber Bruder hatte vergessen einzukaufen, obwohl er laut WG-Plan in der Woche dran war, und so kam die Idee, wir könnten ja doch ausnahmsweise auf Millis Christbaumstollen zurückgreifen, der noch immer auf dem Küchenschrank stand. Gesagt, getan und säg und knack, war die Klinge des Brotmessers in der Mitte abgebrochen.

Millis Stollen war mittlerweile so dermaßen hart geworden, dass sich selbst mit dem Fuchsschwanz aus dem Werkzeugkasten nichts machen ließ. Nach ein paar dummen Sprüchen war klar: Das wird nix. Der Stollen muss weg. Aber so einfach in die Mülltonne, das ging nicht. Dafür hatten wir mit Millis Christbaumstollen einfach schon zu viel erlebt. Also beschlossen wir, ihn vom Balkon ans Ufer des Landwehrkanals zu werfen. Wahrscheinlich würde er im Schnee landen und den Enten als Nahrung dienen. Also, auf drei …

Allein von der Flugbahn her hätte das durchaus klappen können. Wir hatten allerdings den Kasten Bier nicht mit einkalkuliert, den wir zuvor zur Hälfte platt gemacht hatten, was sich nicht unbedingt vorteilhaft auf die angedachte Flugbahn auswirkte. Andis Stollen-Teil landete im Blechdach der Bushaltestelle, meiner hingegen zertrümmerte eine Beton-Gehwegplatte und blieb dort stecken. Gottlob hatten wir niemanden getroffen. Was wäre das auch für eine bescheuerte Schlagzeile geworden!

Es dauerte nicht lang, bis Millis Christbaumstollen wieder von Schnee und Regen aufgeweicht und von irgendwelchen Tauben gefressen worden war. Die Delle im Bushaltestellendach und die zertrümmerte Gehwegplatte jedoch wurden nie ausgebessert. Und so blieb uns die Erinnerung an diese Episode noch fast zwei Jahre lang wie ein beziehungstechnisches Mahnmal erhalten.